Soeben steht die Sonne auf. So früh schon setzt sich eine nicht mehr zählbare Zahl von ausgeschlafenen, hungrigen Schafen in Bewegung, sich auf der weiten Alm zu verteilen. Einmal aus dem hundebewachten Pferch entlassen, beginnen sie sofort das taugefrischte Gras zu rupfen. Eines von ihnen entgeht dem noch fernen Blick des frühen Wanderers nicht. Es schaut blicklos vor sich hin, neigt nicht seinen Kopf zum Fressen. Die Mitschafe scheinen ein wenig Abstand zu ihm zu halten. Warum das? Nur weil es anders aussieht als die anderen. Soll das der Grund sein? Es muss wohl so sein, das Schaf ist schwarz. Ohren, Augen, Nase, Kinn und Beine. Alles schwarz. Selbst sein Schafsmilchbeutel schwarz.

Traurig und in Gedanken versunken lässt sich das schwarze Schaf ziellos in der Flut der weißen Schafe treiben. Seit letztem Sommer hat es an Gewicht verloren und seiner schwarzen Wolle geht der feinseidige Glanz ab. Ob seine Milch wohl auch schwarz ist? Vielleicht schwarze Milch für schwarze Katzenbabies? Ob es schwarzen Schafskäse gibt? Das schwarze Schaf, es weiß es nicht. Es kann nicht durch die Schläuche der Melkmaschine sehen. Versunken in Gedanken. Plötzlich: „Aua! Das tut doch weh! Wer war das? Wer hat mich da so rüde gestoßen?“ Immer dasselbe, wieder mal war’s keiner. Und nicht nur das Stoßen tut weh, auch die stillen, unbeobachteten Fußtritte. Und natürlich auch, dass die weißen Schafe um es herum immer alles kahl fressen, mit Absicht. Kahl wie die Glatze unter dem verwitterten Hut des Schäfers. Stuffen, Treten, Stoßen, Fressen, Anrämpeln. So geht das den ganzen Tag. Aber so kann es nicht mehr weitergehen. Das hält auch das beste Pferd nicht aus!

Das Schaf, das schwarze, es fasst einen Beschluss: „Ich werde mich allein auf den langen Weg zu unser aller Schöpfergott machen. Vor ihm werd’ ich meines Leidens Klage führen. Er hält, wie es heißt, doch alle Macht in Händen, mag er mein Schicksal bessern.“ Still und unbemerkt, denn niemand wusste von seinem Plan, ruderte es durch die Flut der weißen Schafe bis an den Rand der großen Herde, sprang dann in einem günstigen Moment ungesehen, unbemerkt hinter dichtes Buschwerk, wartete ungeduldig die vielen Minuten, bis die Herde sich weit genug verzogen hatte, nutzte die sich so zäh dahinwälzende Zeit, um in seinem Versteck ein wenig Futter für den langen Marsch zu finden. Gut gesättigt brach es auf. Über Stein und Stock, durch Wald und Wiese, über Ähren und Äste, durch Bäche und Büsche, über Unkraut und Unrat, durch Geäst und Gestrüpp, über Felder und Furchen. Nach sieben Tagen war es am Ziel.

Das schwarze, das Schaf, es klopfte manierlich und höflich an. Ohne irgendwelche Förmlichkeiten ward ihm aufgetan. Dann stand es vor Gott. „Nur keine Zeit verlieren“, dachte es, „die Zeit scheint günstig.“ „Komm ruhig näher!“, hörte es eine klare, sonore Stimme, „ich habe dich auf deinen gewundenen Wegen schon längst daherkommen sehen.“ Das seiner Farbe wegen unzufriedene Schaf begann zu stottern: „DuDu, GGGott, höre mein AAnliegen. Ich bin schwarz, und deshalb verachtet mman mich, frisst mir aalles weg und tritt mich. Das kannst du doch nicht ggewollt haben, als du mich so schwarz in die Welt ggestellt hast. Bitte mmach was!“ Eine lange Pause. Gott holte tief Luft. Das klingt schon sehr eigenartig, wenn ein Geist Luft holt. „Wusste gar nicht, dass es im Himmel Luft gibt. Ich hatte mir Vakuum vorgestellt, ein Himmel voll von Vakuum. Na ja, Schafe können eben irren. Oder vielleicht nur die schwarzen? Nicht auszuschließen“, dachte das Schaf, das schwarze. Es war überzeugt, dass Gott mit so viel Luft überhaupt nicht würde sprechen können. Aber, siehe da, es ging.

In seiner Stimme schwang jetzt ein wenig Strenge mit. „Musste wohl von der Luft sein“, versuchte das Schaf sich den Umstand zu erklären. Doch so war es nicht. Es hatte seinen Grund. „Mein liebes Schaf,“ ertönte die Gottesstimme, „ich muss dir eine Frage stellen.“ „Ja bitte,“ war es in Schafsdeutsch zu hören, „ich bin ganz Ohr!“ „Also gut, wieviel Schafe wurden vor-vor-vorletztes Jahr von den Wölfen gerissen?“ „Weiß ich nicht, kann doch nicht zählen!“ Gott fuhr noch etwas strenger fort: „Aber ich, ich kann zählen, dreiunddreißig waren es, ja, dreiunddreißig.“ „Du wirst es wohl wissen, also dreiunddreißig, gut, also nein, nicht gut!“, das Schaf, das schwarze, ob es in seinem Gehirn vielleicht doch schwarz sei, was für’s Zählen vielleicht nicht so gut wäre, und es dachte noch darüber nach, als Gott schon wieder ansetzte: „Wieviel waren davon schwarz?“ „Weiß ich nicht!“ Jetzt wirkte Gott leicht gereizt: „Du Schafskopf, wenn du das einzige schwarze Schaf bist, du Esel, dann müssen es alles weiße gewesen sein.“ „Öh, da könntest du allerdings recht haben!“

Gott hatte sich etwas beruhigt: „Wieviel Schafe wurden vorvorletztes Jahr von den Wölfen gerissen? Ich weiß, du weißt es nicht. Also, 19 waren es. Wieviel weiße?“ „Das muss ich erst mal überlegen!“, meinte, das Schwarze, das Schaf, kleinlaut. „Alles weiße, mein Freund, du Schaf, du!“ „Schön, Quatsch, nicht schön!“, kam es unsicher unter der schwarzen Wolle hervor.

Gott setzte von neuem an: „Wieviel Schafe wurden vorletztes Jahr von den Wölfen gerissen? Es waren 27, und alle waren weiß.“ „Ich glaube es dir ja!“ Das Schwarze war jetzt noch kleinlauter. „Und letztes Jahr?“, wollte Gott noch wissen. „Schon 14, alles weiße!“, vermelde das schwarze Schaf mit einem leichten Grinsen auf seinen schwarzen Lippen. „Göttliche Zusatzfrage: Seid wann, bitte, kannst du zählen, seit diesem Jahr etwa?“ „Ach was, lern’ ich doch nie, der Schäfer hat’s erzählt!“, lächelte das Schaf, das schwarze, und schwenkte ein wenig überlegen seinen schwarzen Kopf und wedelte seinen staubgefüllten schwarzen Schwanz .

„So, so!“, kam es aus Gottes luftgefüllter Stimme, „hast du kapiert, du vierbeiniges Wollknäuel, du?“ „Nöh, was hätte ich denn kapieren sollen? Dass die weißen etwa weiße Perlen machen und ich schwarze?“ „Du Schafsäckel du,“ fuhr es aus Gottes heiligem Munde, er wollte das Entfahrene sofort wieder einfangen, zu spät. „O!“, fiel das Schaf, natürlich das schwarze, dazuwischen: „Heraus ist heraus, auch bei Gott, da hilft das mit allmächtig und so auch nichts.“ Gott musste unwillkürlich lachen, und er tat es auch, aber laut, dass es in allen Himmelsgewölben ‚tschädderet het’. „Mein Lieber, alle die von Wölfen gerissenen Schafe waren weiß, das hättest du kapieren sollen, verstehst du?“ „Nöh, nix verstehen!“

„Das kann doch nicht sein, dass ich so ein dummes Schaf erschaffen habe, ich war doch noch nie betrunken,“ dachte Gott und setzte wieder an: „Wenn alle Schafe weiß waren, dann bedeutet das: In den letzten drei Jahren haben die Wölfe nicht ein einziges schwarzes Schaf gerissen. Richtig?“ „Ja, das stimmt, du hast recht, du hast recht,“ jubelte das schwarze Schaf, „ich lebe ja noch!“ Und es machte einen kräftigen Satz nach vorn, so dass Gott vor der staubigen Wolke, die aus des schwarzen Schafes Wollpelz hervorquoll, einen Schritt zurückweichen musste. „Verstehst du nun, warum ich dich schwarz auf die Erde gelassen habe?“ „Nöh!“ „In der schwarzen Nacht, wenn es dunkel ist, können dich die Wölfe nicht sehen, eben, weil du schwarz bist wie die Nacht, ein nachtschwarzes Schaf in der schafschwarzen Nacht,“ erklärte Gott in feinstem Gottesdeutsch. „Verstehe, verstehe, schwarz in schwarz, danke, toll, hast du gut gemacht, danke!“, das schwarze Schaf machte einen Luftsprung. „Darf ich jetzt wieder gehen, Gott?“, rief es vom Zenit seiner Sprungkurve herab. Es wartete erst gar nicht auf die Antwort und stieb davon. Gott aber sinnierte: „Auch das Gute erklärt sich nicht von selbst, man muss es geduldig darlegen.“ Er wandte sich in Richtung der davonstürmenden Staubwolke und brummelte in seinen langwelligen weißen Bart: „Ich hab’s ja schon immer gesagt: Wenn du schon etwas nicht ändern kannst, dann ändere wenigstens deine Haltung zu dem Etwas, und dann geht es dir schon besser!“

Das schwarze Schaf traf nach angemessen langer Dauer wieder bei seiner Herde ein, wartete hinter dem Buschwerk, nahm noch eine gute Portion frisches Gras zu sich und gliederte sich wieder in die weiße Herdenflut ein. Fortan trat es so sicher und selbstbewusst auf, auf den Boden und zwischen den Weißen, dass es keinem weißen Schaf mehr einfiel, es zu stuffen, zu treten und zu stoßen. Jedes von ihnen wollte sich in Zukunft hinter dem schwarzen Schaf verstecken, um vor dem Wolf in Sicherheit zu sein. So kam das Schaf, das schwarze, zu großem Ansehen und ward mit Gott und sich zufrieden. Zählen aber, das erlernte es nie. Wozu auch?

Graz, den 31. März 2008