Selten ein Abend in Olten wie dieser am 3.11.06, so viele hochkarätige Veranstaltungen zugleich. Es war schwer, sich zu entscheiden. Würde in diesem heftigen Wettbewerb der Anlass im Rahmen der ‚Offenen Kirche Region Olten’ überhaupt eine Chance haben? Nur wenige Gestalten zeichneten sich in der Dämmerung auf dem Weg zur Pauluskirche an der Grundstrasse ab. Doch mit zunehmender Dunkelheit hellte sich die Zahl der Besucher auf, und es wurde ein wirklich gut besuchter Anlass.

Es war eine äußerst beeindruckenden Uraufführung im wahrsten Sinne des Wortes. Der Autor Wilhelm Kufferath von Kendenich aus Trimbach, bekannt durch seinen geschickten Umgang mit dem freien Wort, verwandelte sich in die Person des Pontius Pilatus, gekleidet in einem strengen schwarzen Anzug. Pilatus feilt seit 2000 Jahren an seinen Memoiren und immer mal wieder lässt er sich dabei auf ein Wechselgespräch mit Jesus am Kreuz ein. Das bronzene Kreuz mit dem Korpus des geschundenen Jesus daran stammt aus dem Atelier des Autors, der sich seit vielen Jahren auch mit Schaffung von Skulpturen beschäftigt.

Eine Lektorin liest eine kurze Passage aus dem Matthäusevangelium über Jesus vor dem Hohen Rat. Dorthinein hört man die dumpfen Schritte der römischen Wachsoldaten, die unter den Händen von Paul Hüsch, einem grossen Orgelimprovisator aus dem Rheinland, von hinten her durch den Kirchenraum dringen. Eine unheimliche Spannung baute sich auf, als Pilatus in diesen Klang hinein zu sprechen geginnt. Und dann bricht aus dem gottlosen, stahlharten Präfekten und Militärmann seine tiefe Verbitterung über das jämmerliche Bild hervor, das „die Herrn Evangelisten“ über ihn entworfen und wodurch sie ihn zur dümmlich-debilen Randfigur der Geschichte gemacht haben. Er beklagt sich heftig, dass die Christen ihn im Credo – gelitten unter Pontius Pilatus – immer wieder durch die Zähne ziehen, mit seinem Namen witzeln, als Pontius Antipillatus, sich von Pontius zu Pilatus schicken lassen. Aber keiner findet ein gutes Wort für ihn.

Man vernimmt den kurzen Bibeltext aus dem Johannesevangelium: ‚Jesus vor Pilatus’. Dann beginnt Philipp Ackermann, ein begnadeter Improvisator auf seinen Flöten, den zweiten Teil. Pilatus, einen roten Umhang über den Schultern, sitzt auf seinem roten Sessel wie auf einem Richterstuhl, vor ihm auf einer Stele das Kruzifix. Seine äusserst präzisen, scharf zugespitzten Worte der Analyse des Prozessablaufes prasseln wie Geisseln auf den Jesus vor ihm nieder: „Als Unschuldiger bist du vor meinen Richterstuhl hingeführt worden, als Schuldiger wurdest du abgeführt.“ Und kristallhart fährt er fort: „Das, was du in deinem Leben tatest, machte dich vor römischem Gesetz nicht schuldig, doch was du vor deinem Richter tatest, machte dich nach römischem Recht schuldig; du hast geschwiegen, und Schweigen vor dem Richter zieht nach der lex romana die schärfste Strafe nach sich. Du hast das so gewollt, du hast mich ausgetrickst, um als in der Sache Unschuldiger, doch in der Form Schuldiger dein Todesurteil zu bekommen. Nur so konntest du deinen Erlösungsweg im Opfertod vollenden. Du hast mich zu deinem Werkzeug gemacht. Das Verfahren war in jeder Beziehung ordnungsgemäss. Ohne mich hättest du den Kreuzestod nicht erleiden können, dein Erlösungswerk wäre gescheitert und deine Lehre im heissen Sand der Wüste versunken.“

Orgel und Flöte nehmen im aggressiven Wechselspiel die gespitzten Worte des Pilatus wieder auf und führen dann in einem harmonischen Abklingen den dritten Teil an. Pilatus, nun in einem gelben Umhang, sitzt wieder hinter seinem Schreibtisch mit dem kleinen Kruzifix darauf. Er denkt nach über die Geschichte der Christen, die nach seiner Meinung dem Christentum bis heute keine wirkliche Chance im Sinne der Bergpredigt gewährt haben. Und über die Erlösungstat, die er als hartgesottener gottloser Römer nicht begreifen kann.

Aber er beginnt die Grösse des christlichen Prinzips zu erahnen, auch wenn er Jesus nur für einen ganz normalen Menschen hält. „Nach all den Gräueltaten, die Menschen in diesen 2000 Jahren auf dieser Welt begangen haben, kann nur noch die dienende Liebe zu anderen, das bescheidene Verzeihen für Freund und Feind und die Hilfe auch unter Einsatz des eigenen Lebens“, sagt Pilatus. Dieses Dreier-Prinzip hervorgebracht zu haben, sei für ihn die Erlösungstat. Eine Bibelstelle über das Dienen und ein grandioses Orgelfuriose beendet den dritten Teil.

Nach einer fast nicht auszuhaltenden Stille wendet sich Pilatus leise an den Jesus: „Ich bin ein Opportunist, sichere mich nach allen Seiten ab, was meinst du, könnte ich unter den mildernden Umständen deiner lascher gewordenen Christen am Ende aller Zeiten auch in dein Reich gelangen?“ Wieder Stille. Dann ganz leise: „Nickst du oder täuschen mich meine Augen?“

Es war faszinierend und hoch dramatisch, dieser berührende Anlass. Einige leere Plätze wiesen auf die, welche wirklich etwas Besonderes verpasst hatten.