Gerade, wo ich begonnen habe, diese Zeilen zu schreiben, ruft mich ein Freund an: „Du, ist dir das auch schon einmal passiert, ich komme von einer Geschäftsreise zurück, freue mich auf ein paar Tage in Ruhe, will in mein Haus an der Allmendstrasse, aber ich kann nicht rein.“ Meine neugierige Frage: „Aber wieso denn nicht?“ „Na ja, das Neue Jahr steht vor der Tür, so kann ich nicht hinein!“ „Blödmann du, mich so zu erschrecken!“

Dabei ist dieser merkwürdige Neujahrsscherz gar nicht so dumm, denn es ist wirklich erschreckend, dass das Neue Jahr schon wieder vor der Tür steht. An den vergangenen 364 Tagen haben wir die Gegenwart verloren. Obschon wir uns im Alten Jahr ständig vorgenommen, morgen dann wenigstens ein paar Stunden auszuruhen und ganz wir selbst zu sein. Immer morgen. Da kam es nie dazu. Verlorene Gegenwart.

Es ist schon so, wir tun uns schwer mit der Gegenwart, sehr schwer. Denn sie stellt sich nie ein, sie will nie da sein. Und zu allem Verdruss müssen wir erkennen: Sie ist nie da, denn sie kann nie da sein. Sie ist ein Konstrukt in unserem Gehirn. Im Moment des Denkens der Gegenwart konstruiert sie sich in unserem Gehirn und gibt vor, wirklich zu sein, so wirklich wie eine Realität. Aber sie ist keine Realität, ihre Wirklichkeit ist in Wirklichkeit nicht wirklich, sie kann streng genommen nur als ein zeitloser Punkt gedacht werden. Als ein Punkt, der keine zeitliche Ausdehnung hat. Wie wenig man auch denken mag, denken braucht immer Zeit, wie wenig auch immer, jedenfalls mehr als die Zeit null des zeitlosen Punktes. Darum ist es dem Gehirn nicht möglich, die Gegenwart zu denken. Gegenwart ist realitätslos. Um sich so etwas Quasi-Gegenstandsloses vorzustellen, muss man sich etwas vormachen und aus Vergangenheit und Zukunft jeweils einen kleinen Abschnitt abtrennen und dann die beiden kleinen Abschnitte zusammenschweissen und inkorrekterweise mit Gegenwart benennen. Gegenwart ist eine Lüge. Und unser Leben kann nicht anders, als sich in einer Aneinanderreihung von vielen nicht existenten Gegenwarten zu vollziehen. Heißt das, wir leben in der Lüge? In diesem Sinne schon. Wir leben in etwas, dass wir uns vormachen. Daran ist nicht vorbeizukommen. Gegenwart ist ein wenig von noch als gegenwärtig gedachter Vergangenheit, zusammengeknüpft mit ein wenig von schon als gegenwärtig gedachter Zukunft.

Nehmen wir es genau, so bleibt uns nichts anderes, als jeden Augenblick in einer gedachten Zeit zu leben, die sich gerade zur Vergangenheit ab-schliesst und die sich gerade ein Stücklein Zukunft er-schliesst. In Wirklichkeit leben wir somit ohne Gegenwart, und das ist tatsächlich die wirkliche Wirklichkeit. Wir sind gezwungen, ohne Wirklichkeit des Gegenwärtigen zu leben. Könnte das einen Grund haben? Sehr wohl. Wenn es die Gegenwart nicht geben kann, sagen wir, weil ihr keine zeitliche Existenz zufällt, dann kann die Evolution die Gegenwart in keinem Lebendigen verankert haben. Evolution legt dem Lebendigen nur jene Eigenschaften zu, die sich im Prozess von Mutation und Selektion am tatsächlich Vorhandenen, Gegebenen, Wirklichen herausbilden können. Keine Gegenwart auf Erden heisst keine Wahrnehmung von Gegenwart, kein Erfahren von Gegenwart, kein Denken von Gegenwart durch das Lebendige. Nur Konstruieren eines Begriffes Gegenwart möglich. Wir sind gegenwartslos. Das ist unser Problem.

In der Sprachwissenschaft ist ein Nomen Actionis ein Substantiv, das ein Geschehen bezeichnet, ein Geschehen, das in der Vergangenheit begonnen hat und in der Zukunft enden wird. Das Geschehen kappt ein Stück Vergangenheit, ebenso ein Stück Zukunft, fügt beide Stücke aneinander und nennt das Ergebnis Gegenwart. Gegenwart ist ein Substantiv ohne Existenzform, die es bezeichnet. Dem Begriff Gegenwart ist demnach etwas unterlegt, etwas Künstliches, etwas Konstruiertes, lateinisch sub-jectum, zu deutsch unter-legt, und das bedeutet sinngemäss was der Aussage zugrunde liegt. Dem Substantiv Gegenwart liegt etwas zugrunde, was es nicht gibt.

Ist das der Grund, warum wir immer aus einer kaum verstandenen Vergangenheit agierend herausrennen in eine kaum zu verstehende Zukunft, und die notwendige Rast, anzuhalten, Atem zu holen, zu überdenken, nie finden können, weil Rast in sich Gegenwartscharakter trägt? Ist es das, was uns das Leben so schwer macht, weil wir durch eine Besserung fordernde Vergangenheit in eine Besserung versprechende Zukunft getrieben werden, ein Prozess, der in der Gegenwart kein Halten, kein Einhalten, kein Halt, keinen Halt findet. Wir sind getrieben in einer lügenhaften Gegenwart, die ob der Lüge keine Gegenwart ist. Unser Gehirn täuscht uns Gegenwart vor, als ob wir uns in ihr wie im Schatten einer in ihr vermuteten Sicherheit niederlassen könnten. Und mit zunehmendem Alter sind wir in der zweiten Täuschung, nämlich darin gefangen, dass die nicht existierende Gegenwart zeitlich immer kürzer wird. Da wir keinen Halt finden, müssen wir weiterrennen. Ein gegenwartsloser Sisyphus, rennend auf einem endlichen Weg, der sich hinter ihm abtrennt, um sich vor ihm wieder anzuhängen. Obwohl der Weg endlich, bleibt er endlos. Bis Sisyphus stürzt und liegenbleibt. Wir sind Durchreisende, immer und immer auf der Reise. Wir sind Gast, nie wirklich Niedergelassene.

Was können wir tun? Wir müssen uns in einer Welt von Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten, von behaupteten und konstruierten Wahrheiten bewegen, und wir können den ständigen Lauf aus der Vergangenheit in die Zukunft nur dann zu einem sinnvollen Leben gestalten, wenn wir unter allen Umständen und in jedem einzelnen Fall allem gegenüber, das uns auf dem Lebensweg begegnet, äußerst kritisch sind, nicht unkritisch einem laut angepriesenen, vermeintlich guten Weg folgen. Äußerste persönliche Wachsamkeit ist uns abverlangt. Denn schon immer regiert ein unendlich fragwürdiges, verwerfliches Motto die Welt: Es muss nicht wahr sein, aber klar sein. Dagegen kann sich der Mensch nur mit höchster Wachsamkeit und kritischer Vorsicht schützen. Würden alle in dieser Wachsamkeit Zukünftiges in Vergangenes wandeln, hinterliesse die dann folgende Zukunft eine bessere Vergangenheit, weil sie selbst besser wäre. Unsere Wachsamkeit und Vorsicht wären sehr viel größer und leichter aufrecht zu erhalten, würden wir immer eingedenk sein, dass unsere persönliche Zukunft irgendwann keine Zukunft mehr hat. Ohne Zukunft fallen wir. Ende der Reise. Wachsamkeit und kritisches Bedenken lassen sich nicht auf ein Morgen verschieben.

Jahreswechsel, wenn die Zeit vom Alten Jahr ins Neue Jahr hinüber hüpft. Dazwischen keine Gegenwart.