In unserem Garten gab es damals ein eigentlich weitläufiges Gehege für Hühner. Gern beobachtete ich die Eierproduzenten, obschon . . . , ich fand sie dümmlich und langweilig. Ich war acht oder zehn, als ich erstmals zu dieser tiefgreifenden, gleichwohl völlig falschen Einsicht kam.

Wenn ich mich langsam der Einzäunung näherte, nahmen die Hühner mich nicht zur Kenntnis, wenn ich angestürmt kam, rannten sie aufgeregt und planlos davon. Sobald ich stehen blieb, beruhigten sie sich und taten kurz darauf wieder so, als wäre ich nicht da.

Aus meinen Märchen- und Bilderbüchern hatte ich gelernt, dass sie dem Fuchs besondere Leibspeise sein sollten. Ich nahm eines meiner Bücher, ein ganz bestimmtes, es war viel größer als ein Blatt Papier, hochkant im Format, aus dickem Karton mit aufgeklebter Deckschicht – von der ganzen Faserwissenschaft, die dahinter stand, ahnte ich natürlich noch überhaupt nichts, es hätte mich auch nicht interessiert – mich interessierte in meinem Kinderbuch in diesem Moment nur der Fuchs; ich legte ein Stück durchsichtiges Papier auf den kleinen Buch-Fuchs, zeichnet ihn durch und übertrug, vergrößert so gut es mir gelang, auf ein großes braunes Packpapier, das ich auf einen Graukarton aufklebte, das ganze Fuchsmonster heftete ich irgendwie in mein Kinderbuch auf die Doppelseite mit dem Wald, wegen der naturgetreuen Umgebung. Sie mögen meiner fleißigen Verwendung von Packpapier und Karton meine frühe intensive Nähe zur geschätzten Papier-Industrie bemerken.
Nun erstreckte sich das künstliche Feindbild meiner Hühner über eine volle Doppelseite und, ausgeklappt, noch rechts und links darüber hinaus; ein Fuchs mit bräunlich-rotem Pelz und dicker schwarzer Umrisslinie, nicht zu übersehen.

Dieses Feindbild stellte ich von außen gegen den sehr grobmaschigen Diagonaldraht-Zaun und wartete neugierig auf den Schrecken, der nun über meine Hühner hereinbrechen würde. Aber er brach nicht, die Hühner nahmen von der naturgetreuen Attrappe überhaupt keine Notiz. Sie lachten, ja die Hühner lachten, sie lachten über mich.

Ich versuchte es anders und hielt den wohl etwas überdimensionierten Pappenfuchs an mein Schienbein und lief dann so rasch ich konnte am Zaun entlang. Die Hühner entfernten sich, aber nicht sonderlich aufgeregt, und kehrten schnell zum Tagesgeschäft Futtersuche zurück. Wie gesagt, sie lachten über mich. Ich war mit dem Ergebnis unzufrieden, weil es mir eine eindeutige Antwort nicht liefern wollte. Aber eines blieb mir dennoch: Die ganze Sache hatte etwas mit Geschwindigkeit zu tun.

Inzwischen haben sich die Verhaltensforscher meines Kinder-problems angenommen, derweil ich mich mit Papierfasern und Siebmaschen, mit Retention und Entwässerung herumschlagen musste. Nach vielen Versuchen und langwierigen Beobachtungen sind sie zu der Erkenntnis gekommen, dass das erstmalige Auftreten eines Fuchses im Hühnerleben für das Huhn überhaupt nicht eine neue Erfahrung und daher überhaupt keine Überraschung darstellt, die Situation ist bereits seit seinem Entstehen im Ei in ihm gespeichert, wie einprogrammiert in einen ROM-Speicher.

Die Wissenschaftler stellten sich offensichtlich viel klüger an als ich damals, denn sie kamen über Versuchsreihen, die anfänglich so primitiv waren wie meine kindlichen Versuche, bald darauf, dass ein bloßes Nähern eines potentiellen Gegners das Huhn nicht Aggressionsstatus, d.h. nicht Verteidigungsposition annehmen lässt, es ist die Kombination von bestimmten Reizeindrücken, auf welche der ROM-Speicher in ihrem Zwischenhirn anspringt: die ‚fellige‘ Beschaffenheit, die Anschleich-Bewegung und das Operieren eines typischen Flächen-Umrisses unmittelbar unten auf dem Boden direkt in Richtung auf das Huhn zu, face to face, Auge in Auge. Klar, was ich falsch gemacht hatte, mein Pappenbuch-Klappenfuchs war nicht ‚fellig‘ und seine Bewegung am Zaun entlang nicht direkt auf die Eierfabrikanten hin gerichtet.

Wenn man den Fuchsreiz künstlich über eine elektrische Sonde stimuliert, dann wird vom Huhn das ganze Verteidigungs- bzw. Fluchtprogramm ‚durchgespielt‘, auch wenn tatsächlich weit und breit kein Fuchs zu sehen ist. Fällt der stimulierte Fuchsreiz wieder weg, beginnt sofort von neuem das Futterpicken. So sind meine Hühner programmiert.

Das Huhn bildet die Welt nicht in seinem Gehirn ab, im Gegenteil, sein Gehirn ist Gegenbild zu den Reizen der Dinge der Welt, die es als Signale zum lebensnotwendigen Handeln veranlassen. Sehen in unserem Sinne z.B. kann das Huhn nicht. Schon sehr traurig für den Hahn, er vermag, weder die schönen vollen Flügel seiner Henne, noch ihre eleganten schlanken Beine zu erkennen, und sich dieser zu erfreuen, schon gar nicht.

Es ist der Natur nicht angelegen, dem Huhn ein Bild der wirklichen Wirklichkeit und dessen, was die Welt zusammenhält, zu liefern, im Gegenteil, das zu vermittelnde Weltbild ist beschränkt auf eine Anzahl von Signalen und soll nur so weit gehen, dass das Lebewesen rein zur Sicherung seiner Art in der Welt bestehen kann. Wahrnehmen, Erkennen und Wissen haben immer nur Nützlichkeitsfunktion.

Und dann war da noch was, sehr ärgerlich fand ich das; ich habe vom Zaun aus immer den Hahn zu verscheuchen versucht, wenn er gerade wieder die Hühner, mal das eine, mal das andere, wie in einer Rauferei von oben grob zu Boden zwang und dabei wild mit seinem Schnabel an ihrem Kamm hin- und herzerrte. Das war doch nun wirklich nicht nett von ihm. Ich verstand natürlich nicht, welche Art erhaltende und Art neubildende Technik da vor meinen Augen praktiziert wurde. Was bei dieser Rauf-Operation ‚von da nach dort‘ transportiert wird, enthält ‚da‘ lauter Zellmaterial mit halbierten Chromosomen-Sätzen; das die Transportsendung erwartende, empfangsbereite Zellmaterial ‚dort‘ enthält seinerseits ebenso lauter halbierte Chromosomen-Sätze.

Nach vollzogener Zellmaterial-Verschmelzung ergänzen sich die halbierten Chromosomen-Sätze wieder zu ganzen Chromosomen-Sätzen. Wobei durch den Ergänzungsvorgang im Verschmelzen nun wieder alle Erbinformationen komplett auf den ergänzten Chromosomen-Sätzen versammelt sind, jetzt aber gemischt von da und von dort.

Weder Hahn, noch Henne ahnen, dass ihnen – peinlich, peinlich – bei ihren Vorbereitungen zur Raufaktion im allgemeinen winzig kleine Fehler unterlaufen und zwar bei der Anfertigung der halbierten Chromosomen-Sätze, die sie als Kopie von ihren jeweils eigenen ganzen Chromosomen-Sätzen in den für die Lebensweitergabe zuständigen Zellen anfertigen.

Das ist das Geheimnis allen Lebens dieser Welt.

Wenn nämlich die an der Erbmasse rein zufällig auftretenden Fehler – Kopierfehler müsste man sie konsequenterweise nennen –, wenn diese Fehler für die Lebensbewältigung des neuen Lebewesens von Vorteil sind, von Vorteil in Bezug auf Verteidigung, Futterbeschaffung, Gesundheitserhaltung, Gefahrenbewältigung, dann könnte dieses befehlerte Lebewesen eine größere Nachkommenschaft hinterlassen als die unbefehlerten und somit zum Ahnen einer verbesserten Art werden.

Der rein zufällige Fehler ist der Vater meiner Hühner. Wenn Hahn und Huhn um die tolle kreative Fähigkeit, die ihnen innewohnt, wüssten, sie würden ihre Aktion sicherlich nicht nach Art einer Raufszene abwickeln, sondern würdevoll zur Tat schreiten.

Alles Tun meiner Hühner läuft nach festem Programm, nur der Fehler nicht, der schlägt zu nach dem Gesetz des Zufalls. So ein Huhn ist ein armes Schwein, nicht wahr. Das ganze Hühnerleben ist festgelegt, das Vegetative im Stammhirn und das Agieren auf der Zwischenhirn-Diskette, da gibt es nichts Menschliches: kein handelndes Subjekt, keine Entscheidungsfreiheit, keine Wertungsmöglichkeit.

„Ein Großhirn müsste man haben“, das ist Tag für Tag der einzige Beitrag an Denkleistung, den die Hühner erbringen, . . . denk‘ ich mal‘. Ham halt nur ’ne klene Festplatte. ‚Daför aber können se sich och nich vertuen.’ Irren ist ausgeschlossen. Irren ist zwar menschlich, aber nicht hühnerisch. Wohl aber natürlich, man denke an den Kopierfehler bei der Halb-Chromosomen-Satz-Anfertigung.

Übrigens, meine Hühner haben eine Erbmasse, die, um es einmal ganz grob zu schätzen, da ich es nicht so genau weiß, also die haben eine Erbmasse, die zu vielleicht 20% oder 30 % identisch ist mit der unsrigen. Und da gibt es noch die Primaten, Menschenaffen. 98,3 % ihres Erbgutes ist dem der Menschen völlig identisch. Was glauben Sie, wie das die Hühner freut, sich in so feiner Gesellschaft zu finden, von der Freude der Menschenaffen erst gar nicht zu reden.