Fürwahr, ich hatte zwei beste Freunde, Detlef, er zählte meine Jahre, und Otto, er zählte acht Jahre mehr. Sie kannten einander nicht, sie wussten nicht einmal voneinander. Gemeinsam war ihnen, dass ich sie meine besten Freunde nannte und umgekehrt, da bin ich mir ganz sicher, ich war selbiges auch für sie. Uns war klar, was dies bedeutete: Wenn ich in arge Not geriete, würden sie mir mit allem, was sie hatten – ich meine nicht etwa nur das Materielle, ich meine auch das, was nur durch menschliche Zuwendung erbracht werden kann – , beistehen. Und sie wussten, dass ich unsere Verbundenheit ebenso verstehen würde. Beide haben mir diese Art von Freundschaft erwiesen, zu der Zeit, als ich vor 25 Jahren das erste Mal schwer erkrankt bin. Mir hat das Schicksal die Gelegenheit, ihnen Gleiches zu tun, nie geboten. Beide starben sehr früh, ich darf weitermachen, konnte sie zu ihrem Ende hin nur mit Worten durch‘s Telefon zu trösten versuchen. Über Detlef habe ich an anderer Stelle geschrieben. Hier will ich zwei Passagen aus Ottos Leben schildern. Die erste hat er mir erzählt, so ist sie authentisch und verbürgt. Die zweite habe ich mit ihm erlebt.

Otto stammte aus sehr wohlhabendem Hause, seine Eltern besaßen in einer großen norddeutschen Stadt zahlreiche Immobilien, vor allem Häuser, darunter auch stattliche Büro- und Verwaltungsgebäude. Einige von ihnen stehen heute unter Denkmalschutz. Ottos Vorfahren waren einst sehr wahrscheinlich aus Griechenland nach Deutschland eingewandert. Sein Vater hatte zusammen mit einem berühmten Verleger an Stelle des ehemaligen Heine Hauses an der vornehmsten Straße der Stadt, direkt gegenüber dem zum See ausgeweiteten Fluss, ihr Bürogebäude errichtet. Ottos Elternhaus lag im schönsten und vornehmsten Teil der Stadt, im Eppendorfer Villenviertel.

Doch dann kam die Zeit, wo man im ganzen Land zu ihnen auf Abstand ging, wo man sie immer deutlicher fühlen ließ, dass man sie nicht mehr mochte, wo man ihnen schließlich bedeutete, es sei besser zu verschwinden. Ottos Eltern waren in beiden Linien seit Generationen jüdischer Abstammung. Seine Mutter, erste Professorin für Mathematik in Deutschland, verlor bald ihre Stelle. Die Situation wurde für die Familie: die Eltern, Otto und seine Schwester, immer untragbarer, schließlich war sogar ihr Leben bedroht. Sie fassten schweren Herzens den Entschluss, Deutschland zu verlassen und zunächst nach England zu emigrieren. So meldeten sie denn ihre Absicht bei der zuständigen Behörde, es war die Jahresmitte 1938, als die Ausreise offiziell noch zugelassen war. Ein Tag im August wurde festgelegt, an welchem ein Mitglied der für dieses Stadtgebiet verantwortlichen SS-Organisation bestimmt und abkommandiert wurde, das Packen im Wohnhaus zu überwachen. War es ein schlechtes Omen?

Der vereinbarte Tag kam, der SS-Mann in schwarzer Uniform und schwarzen Stiefeln mit genagelten Sohlen und stählernen Kappen auch. Es war für die Familie ein bedrückender, trauriger Tag, der in ihnen für den Rest ihres Lebens bei jedem Erinnern die quälende Angst wieder aufwecken würde. Der SS-Untersturmführer, der er wohl war, wählte das großräumige Esszimmer der vornehm eingerichteten Villa als sein vorübergehendes Büro, machte den großen Esstisch zu seinem Schreibtisch, packte einen Stapel von listenartigen Blättern aus der schwarzen Ledertasche aus, nahm Platz, begann die Listen säuberlich nach einer gewissen Weise zu ordnen, machte erste Eintragungen darauf, stand wieder auf und gab eine Erklärung ab, sozusagen im Namen des Deutschen Volkes, das zu diesem Vorgehen zwar nie befragt worden war: „Sie dürfen keinerlei Wertsachen mitnehmen, damit sind alle Sachen gemeint, die wertvoll sind. Wertsachen haben Sie dort drüben hinzulegen, das, was Sie mitnehmen dürfen, dahin. Wenn Sie gegen diese Anweisung verstoßen, bleibt alles hier, die Sachen werden dann später versteigert. Haben Sie das verstanden?“ Er wartete die Antwort nicht ab, weil er sie nicht erwartete. Im Kommandoton fügte er noch hinzu: „Gehen Sie jetzt!“

Die Eltern begannen sofort, unter Mithilfe ihrer beiden Kinder, mit der mühseligen Arbeit. Dabei waren sie von Furcht und Angst geplagt. Würden sie sich irren und irgendetwas aus ihrem Besitz für nicht wertvoll halten, was aber später vom SS-Mann doch für wertvoll angesehen würde, dann könnten sie gar nichts mitnehmen. Er hatte sie also jederzeit in der Hand, er bestimmte über ihr Schicksal, ob sie wenigstens ein paar wenige Dinge, die in den nächsten Monaten, vielleicht in den kommenden Jahren für sie überlebenswichtig werden sollten, mit auf die Flucht nehmen durften.

Ottos Vater war gewohnt, mit puren Zahlen, hinter welchen große Vermögenswerte standen, zu arbeiten. Doch in den praktischen Dingen des Lebens wirkte er immer recht hilflos. Das war auch so, auch jetzt. Hier und da reichte ihm seine Frau ein Stück aus der umfangreichen Habe, dass er es rüber trage. Die Erniedrigung schmerzte. Er tat, was befohlen war, gewissenhaft, aber doch zugleich mit einer gewissen Unsicherheit, denn er schaute sich, bevor er die Sache wie ein Stück aus ihrem gemeinsamen Leben abgelegte, wie nach Bestätigung für die Richtigkeit seines Tuns suchend, nach seiner Frau um. Ottos Mutter dagegen verkörperte den ausgeprägten Sinn für Realität. Für sie bedeutete das hier alles nicht geordnete Emigration sondern nackte Flucht. Das Überleben ihrer Familie war bis in die physische Existenz bedroht. Hier und da hielt sie einen Gegenstand in Händen, den sie beim besten Willen nicht einzuteilen wusste: wert oder unwert? Gern hätte sie ihn zum Fluchtgepäck gegeben, andererseits wollte sie nicht unbedacht oder leichtfertig alle Habseligkeiten verlieren. Vorsichtig näherte sie sich dem großen Esstisch mit dem noch größeren SS-Untersturmführer. Der schaute sie so grimmig an, als hätte sie ihn in einer äußerst wichtigen Tätigkeit gestört. Sie blieb unsicher neben ihm stehen, hielt ihm den Gegenstand hin und verharrte in Schweigen. Der schwarz uniformierte Mann, tiefschwarz wie der leibhaftige Tod, ließ sie gnadenlos warten. Man möchte annehmen, um sie noch weiter zu erniedrigen. Sie blieb geduldig. Dann endlich schaute er kurz auf, gereizt: „Legen Sie das da zu den Wertsachen hin, da drüben, verstanden, kapiert?“ Und er zeigte auf den Gegenstand in ihrer Hand. Sie tat wie geheißen und verschwand lautlos wieder im Wohnzimmer, mit dem Sortieren und Packen fortzufahren.

Noch einige Male wiederholte sich das Hin und Her, das stumme, bange Fragen, dann die strenge, kurze Zurückweisung. Jedes Mal abgelehnt, zu wertvoll befunden. Irgendein Bewertungskriterium für das Bewerten des Wertvollen konnte Ottos Mutter nicht ableiten, vielmehr schien ihr: alles reine Willkür. Was immer sie durch Rückfragen zum Mitnehmen sichern wollte, die Mitnahme wurde verwehrt. Die Wert-/Unwert-Latte dieses schwarzen Funktionärs musste sehr tief liegen. Wahrscheinlich gehörte auch das zur Psychologie des Ausgrenzens. Der SS-Aufseher reagierte bei jeder weiteren Anfrage mit gesteigerter Gereiztheit.

Dann – sie dachte, ein letztes Mal – nahm sie all ihre Kraft, all ihren Mut und all ihre Hoffnung zusammen, obschon sie doch wusste, ein zerstörerisches Donnerwetter würde auf sie warten und ihr fragendes Begehren kalt abgeschmettert. Dennoch, sie ließ sich von ihrem Innern vorantreiben, sie wollte, sie musste es versuchen. Auf ihren Armen lag ein wunderschöner, kostbarer, ganz neuer Mantel, gearbeitet aus erlesenstem Nerz in besonders wohltuend feinem Ton irgendwo zwischen Schwarz und Braun und mit edelstem Glanz. Alle Felle waren im Farbmuster sorgfältig ausgewählt, so dass sich ein sanftes Muster über dem ganzen Mantel abzeichnete. Ihr Mann hatte ihn ihr anlässlich ihres letzten runden Geburtstags zum Geschenk gemacht. Das wertvollste Stück, das er hatte finden können, Nerze waren zu der Zeit noch sehr selten. Jetzt lag dieses wunderschöne Stück wie eine einzigartige Gabe an eine Königin auf ihren Armen. Über den rechten Arm hatte sie einen Muff im selben Material geschoben, unter dem linken Arm hielt sie die dazu passende Kopfbedeckung. So stand Ottos Mutter zitternd vor dem bedrohlichen Totenkopfemblem des SS-Untersturmführers, der sich als Abbild des größten Führers aller Zeiten gerierte. Dieses wertvolle Stück, ein Mantel, wie gut als Decke für ihre auf der Flucht vielleicht frierenden Kinder, vielleicht auch als letztes Zahlungsmittel, wenn sie eines Tages überhaupt nichts mehr hätten. Alles schoss ihr durch den Kopf, während sie neben diesem für sie so sehr zur Gefahr gewordenen Menschen, der alle Macht über sie hatte, stand, zitternd und geduldig wartend, den Blick starr auf seine rechte Gesichtshälfte gerichtet. Plötzlich verwischte sich das Bild, das sie vor sich sah, sie konnte dem Druck, den sie sich selbst mit ihrem Willen auferlegt hatte, keinerlei Emotion zuzulassen, nicht mehr Stand halten, die Tränen entquollen ihren Augen und tropften auf den wertvollen Mantel.

Nach einer Ewigkeit ihres Wartens und schließlich des Weinens sprang dieser gefürchtete SS-Vollzugsbeauftragte von seinem Stuhl auf, begann auf sie einzuschreien, brüllte, dass sich seine Stimme beinahe überschlug: „Sie, stellen Sie sich nicht so an, spielen Sie nicht hier die Dumme, sonst muss ich ganz andere Saiten aufziehen, ich habe Ihnen sehr deutlich erklärt, dass es Ihnen nicht erlaubt ist, irgendwelche Sachen von Wert mitzunehmen. Werfen Sie den Mantel hier auf den Tisch, und das Pelzzeug an Ihrem Arm und das andere da auch, und sehen Sie zu, dass sie bald fertig werden, ich habe keine Lust, hier auch noch die Nacht zu verbringen. Abtreten!“, schrie er ihr noch zu. Sie tat, was befohlen, drehte sich langsam um, ging unsicher ins Wohnzimmer zurück. Sie zwang sich weiterzumachen. Weder ihre Kinder, noch ihr Mann sprachen ein Wort. Alle zusammen sichteten sie, packten, brachten zum angewiesenen Platz das Wertvolle, sichteten weiter, packten weiter. Ihr Tun und die Zeiten quälten sie mehr und mehr. Inzwischen aber hatte der in der schwarzen Uniform auf dem Tisch Platz genommen und sich wohl wieder etwas abgeregt, mit halbwegs normaler, dennoch strenger Stimme rief er: „Hallo, Sie, Frau Dingsda, haben Sie eine Nagelschere?“ „Ja, ich bringe sie Ihnen sofort.“ Sie brachte die gewünschte Schere und ging stumm an ihre Arbeit zurück. Weiter geschah nichts. Außer, dass er sich auf den Esszimmertisch setzte und mit der Nagelschere an irgendwas herumzunesteln anfing.

Es mochte etwa eine Stunde vergangen sein. Erneut diese scharfe SS-Kommandostimme, laut, abgehackt, vorwurfsvoll, unwirsch: Sie, Frau … öh, ist ja egal, was soll das, was soll ich mit diesen Fetzen hier, nur Wertsachen habe ich gesagt, diese Lappen hier, weg damit, einpacken!“ Er warf ihr den Nerzmantel nach: „Und die anderen Sachen da auch!“, brüllte er hinzu und warf Muff, Kopfbedeckung und zwei Ärmelstücke hinterher. Ottos Mutter begriff gar nichts mehr, hob schweigend die fünf Stücke auf und verschwand damit im Wohnzimmer. Nach näherem Hinsehen verstand sie dann. Da hatte doch dieser Eine von den vielen SS-Schergen, er saß immer noch auf dem Tisch, ganz vorsichtig und in großer Geduld die Nähte, welche Ärmel und Mantel zusammenhielten, mit der spitzen kleinen Schere aufgetrennt.

Wenige Tage danach verließ eine kleine Familie, eingeschüchtert und nun völlig verarmt, das Heimatland ihrer Väter und setzte mit dem Schiff nach England in eine neue Zukunft über. In ihrem Herzen trugen sie ein sonderbares Erlebnis an das zurückgelassen‘ Land. Sie verbanden damit Glauben und Hoffnung, dass wohl diese Welt noch nicht ganz verloren sein könne.

Was mag wohl aus dem SS-Untersturmführer geworden sein? Hat er vielleicht seine letzte Unterkunft, die der ewigen Ruhe, auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg gefunden? Dort liegt ein dreiundzwanzigjähriger Untersturmführer. Zusammen mit zweiundvierzig anderen Angehörigen der Waffen-SS im Alter von siebzehn bis neunzehn Jahren, mit Wehrmachtsangehörigen und mit amerikanischen Soldaten. Aus Anlass des vierzigsten Jahrestages der Kapitulation des Deutschen Reiches besuchte der damalige US-Präsident Ronald Reagan zusammen mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl als Geste der Versöhnung den Bitburger Friedhof. Es kam daraufhin in der Öffentlichkeit zu einer unwürdigen Debatte über die Totenehrung an diesem Hof des Friedens, weil dort eben auch Gefallene der SS ihren Ruheplatz gefunden hätten. Der Streit über diesen Anlass ist als Bitburg-Kontroverse in die Geschichte eingegangen. Es bleibt die Frage: Könnte der Dreiundzwanzigjährige der Untersturmführer der SS aus der Villa in Hamburg-Eppendorf sein? Oder wurde er, weil er hier und da doch ein klein’ Erbarmen gezeigt, unbemerkt irgendwo hingerichtet und verscharrt?

Der Aufenthalt der Familie in England zog sich einige Monate hin, weil Plätze auf den Schiffen nach Nordamerika in solch unmenschlichen Zeiten sehr rar waren. In diesen Tagen des Wartens traute sich Ottos Mutter ein letztes Mal in die alte Heimat, keiner wusste, wie ihr das unerkannt gelungen war. Sie wollte nach Ottos hochbetagter Großmutter schauen. Die alte Dame hatte nicht mit nach England fliehen wollen, sie glaubte, in ihrem hohen Alter würde sie von Entwürdigung und Verfolgung verschont bleiben. Viele hatten das geglaubt: „Man wird uns, ein Leben lang ehrenwerte Bürger dieses Landes, nichts antun.“ Doch sie mussten bald erkennen, Rassenhass kennt keine Grenzen. Und für eine geduldete Ausreise war es inzwischen schon zu spät. Alle Wege nach draußen versperrt. Ottos Mutter organisierte für seine Großmutter mit Hilfe von Verwandten und Freunden dennoch die Flucht, quer durch Asien bis nach China und von dort weiter mit einem Flüchtlingsschiff nach Amerika. Sie selbst schlug sich ebenso unbemerkt, wie sie noch einmal eingereist war, wieder zurück nach England durch. Die Familie traf Monate vor der Großmutter in New York ein. Alle vier wurden als Flüchtlinge in der Nähe von Boston untergebracht. Fast ein halbes Jahr später konnten sie die Großmutter am Hafen in New York umarmen. Sie war sehr gebrechlich geworden und ständig von dem Gedanken gequält, doch noch von den SS-Häschern abgeholt zu werden. Erst nach mehr als einem Jahr gelang es Ottos Mutter, einen gangbaren Weg für die Großmutter zu finden, sie von ihren quälenden Ängsten zu befreien. Der Chef der zuständigen Einwanderungsbehörde hatte ein klein‘ Erbarmen mit der alten Frau und ließ sich überreden, die feierliche Einbürgerung der Großmutter ohne irgendwelche Hürden in der Verwaltung schnellstens durchzubringen. Er ließ ein Einbürgerungsdokument mit ihrem Namen anfertigen, einen Pass für ausstellen und überreichte die Dokumente in einer offiziellen Zeremonie an die alte Frau. Nun war sie beruhigt, keiner würde sie als US-Bürgerin holen, auch die Häscher aus der alten Heimat nicht. Das Ende des Krieges hat sie nicht mehr erlebt. Und sie hat vor allem nie erfahren, dass die Einbürgerung nur zum Schein arrangiert war. So verbrachte sie die letzten Jahre ihres Lebens in bitterer Armut, doch in Ruhe und Frieden.

Ottos Mutter fand schließlich eine Arbeit in einer Versicherungsgesellschaft, nachdem sie mit großer Energie Amerikanisch gelernt hatte. Sie verdiente nicht viel, aber es reichte, um die Familie über Wasser zu halten. Der Vater konnte sich vom Schicksalsschlag nie mehr erholen. Er fand nach langer Zeit eine Arbeit als ‚Putzfrau‘ im Seziersaal des anatomischen Instituts, wo er für ein paar wenige Dollar die Räumlichkeiten, Autopsie-Tische und Instrumente reinigen musste. Er tat es mit großer Abscheu, aber er tat es dennoch mit durchhaltender Beharrlichkeit für seine Familie. Amerikanisch hat er nie richtig gelernt. Zum Ausgleich für das erlittene Unrecht erhielten die Eltern nach dem Krieg von Deutschland eine einmalige Zahlung von mehreren Tausend Deutsche Mark.

Otto studierte Papiertechnologie, war ein brillanter Wissenschaftler, ein ausgezeichneter Mathematiker, seine Dissertation über ein von ihm entdecktes Gesetz der Struktur des Papierblattes umfasste nicht einmal eine ganze Seite. Nach einigen Jahren auf dem Gebiet der Forschung in verschiedenen Papierkonzernen machte er sich selbstständig, baute Messgeräte für die Kontrolle der Blattbildungsprozesse in der Papierherstellung. Für einen Wissenschaftler war er ein ,verdammt‘ guter Kaufmann, a God damned good businessman, wie seine Freunde sein kaufmännisches Talent beschrieben. Er brachte es mit seinen wenigen Mitarbeitern nicht zu Reichtum, den Dollar zwei Mal umdrehen musste er nicht. Und es erlaubte ihm, sich allwinterlich ausgiebig dem Schifahren, besonders in der Schweiz, hinzugeben.

Auf einem Kongress von Papiertechnologen in Kopenhagen lernte ich ihn in den siebziger Jahren kennen, er hielt dort einen ausgezeichneten Vortrag, mit welchem er sich von allen anderen um Klassen abheben konnte. Ich war sehr beeindruckt von ihm und wollte ihn unbedingt kennenlernen. Natürlich sprach er reinstes Amerikanisch, doch seine Muttersprache war ihm nicht verlorengegangen. Fließend Deutsch, nur manchmal musste er ein Wort suchen oder etwas länger nachdenken, wie er die Sache auf Deutsch richtig ausdrücken könnte. Wir verstanden uns von Anfang an sehr gut, in vielen Dingen dasselbe Denken. Wir wurden Freunde. Otto hat mich für den Kreis der wissenschaftlichen Blattbildungsspezialisten in den USA vorgeschlagen, ich wurde alsbald aufgenommen, als einziges europäisches Mitglied. Das war Mitte der siebziger Jahre.

Von da an trafen wir uns jährlich zum Seminar der Spezialisten jeweils an einem anderen Ort der USA. Otto hat mir viel von seiner neuen Heimat gezeigt. Er war von ganzem Herzen Amerikaner geworden, leugnete seine deutsche Herkunft nie, kannte auch keinerlei Hassgefühle gegen die Täter von damals und deren Kinder. Einmal meinte er auf einem Spaziergang in Nashville/Tennessee: „Weißt du, eines ist mir unbegreiflich, da wird ausgerechnet jemand aus dem Volk, dessen Häscher Armut und Vernichtung über meine Familie gebracht haben, zu meinem besten Freund. Das kann ich nicht fassen.“ Wir trafen uns zwei bis dreimal im Jahr, ein Mal in den USA, zwei Mal, manchmal sogar drei Mal in Europa zum Gedankenaustausch und um gemeinsam Geschäfte einzufädeln. Otto ein äußerst integrer Mensch, ein wahrer Humanist. Es gelang mir mit Hilfe eines Geschäftsfreundes, an einem bestimmten Tag eines bestimmten Jahres eine gemeinsame Geschäftsreise mit ihm nach Deutschland zu arrangieren. Es war der vierzigste Jahrestag seiner Flucht aus der alten Heimat. Am Abend waren wir Gäste meines Freundes, eine wunderschöne klassische Villa in einem parkähnlichen Garten, feine Teppiche auf weißen Marmorböden und Marmortreppen, geschmackvoll möbliert und dekoriert, erlesene Bilder. Otto zupfte mich am Ärmel und flüsterte mir unbemerkt zu: „Das hier alles ist die Ambiance, in der ich als Kind gelebt habe.“ Weder Vorwurf, noch Neid, noch Missgunst begleitete die Anmerkung, wohl ein wenig Wehmut. Ich empfand ein Gefühl der Scham.

Im Juni des Jahres 1991 war ich eingeladen, den Festvortrag zum Jahreskongress des Vereins der deutschen Zellstoff- und Papier-Chemiker und -Ingenieure (Zellcheming) im Congress Center Hamburg zu halten. Während des öffentlichen Teils der Hauptversammlung wurde plötzlich mein Name aufgerufen, verbunden mit der Bitte, der Namensträger möge auf die Bühne kommen. Dort angekommen, empfing mich der Vorsitzende des Vereins und überreichte mir zu meinem großen Erstaunen, wie er sagte: „in Anerkennung Ihrer Leistungen für die Papierindustrie, insbesondere für Lehre, Forschung und Entwicklung der Technologie“, die Walter Brecht-Medaille, die höchste Auszeichnung, die der Verein zu vergeben hatte. Anschließend sollte der Festvortrag beginnen. Gerade, als ich das Kopfmikrofon anlegen wollte, kommt Otto zwischen den Vorhängen der Bühne hervor, in der Hand ein großes eingerahmtes Blatt Papier. Nun war die Überraschung wirklich vollständig. Otto sprach Deutsch, aber man merkte doch, dass er seine Muttersprache nur noch selten gebrauchte. „Ich bringe dir die Auszeichnung der Technical Association of Pulp & Paper Industry (Tappi), Atlanta, USA, für deine Verdienste um die Aus- und Weiterbildung der amerikanischen Papieringenieure.“ Spontan umarmte er mich und sprach dabei ganz leise und ohne Mikrofon: „Wilhelm, ich hätte mir nie im Leben vorstellen können, dass ein Deutscher mein bester Freund werden würde. Es ist wunderbar. Now go and begin your speech. I have heard you quite often speaking about paper formation technology, but I am sure you will fascinate the audience by your art philosophy in the same brilliant way, too.“

Für den Abend lud Otto uns, meine Frau Brigitta und mich, und diejenigen meiner Mitarbeiter, die in Hamburg anwesend waren, zu einem Abendessen in Schümann‘s Austernkeller, Jungfernstieg 34. Der Eingang ganz unscheinbar, dennoch seit bald hundert Jahren Treffpunkt der feinen Gesellschaft, im warmen Charme des Jugendstils ausgestaltet, angelegt in mehreren kleinen und größeren Chambres séparées, ein wahrer Edelstein der kulturellen Entwicklung Hamburgs. Frau Schümann begrüßte natürlich alle ihre Gäste persönlich, die meisten kannte sie. Dass sie auch Otto kannte, ebenso er sie auch, wussten beide nicht. Sie war die Tochter des vormaligen Inhabers, wie Otto‘s Familie auch jüdischer Abstammung. Tatsächlich, wir waren im Heine Haus, ein prächtiges Kontorhaus1, das Julius Campe2 und Julius Kallmes3 als Bauherrschaft vom Architekten Ricardo Bahre an Stelle des einst vom Bankier und Philanthropen Salomon Heine erbauten und 1903 verbrannten Hauses hatten errichten lassen. Auf einer großen weißen Marmortafel in goldenen Lettern fanden wir im Treppenhaus eine entsprechende Inschrift. Julius Kallmes war Otto‘s Vater, Otto hieß nach ihm Otto Julius Kallmes. In diesem Gebäude hatte der Vater seine Büroräumlichkeiten, von wo er seine Immobilien verwaltete. Otto spielte als Kinde im überdachten Innen-/Treppenhaus-Hof mit Frau Schümann. Daran konnten sich beide erinnern. Er zeigte uns den Platz im Treppenhaus-Foyer, an welchem damals ein Ölgemälde seines Vaters hing. Sie hatten es mit auf die Flucht nach Amerika nehmen dürfen, wo sie es in ihrer finanziellen Not schließlich verkaufen mussten. Leider ist inzwischen das gesamte Restaurant verschwunden, das Treppenhaus ist nicht mehr zugänglich, ein teures Geschäftslokal wurde im Parterre untergebracht. Wenigstens bleibt auf einer edel gestalteten Tafel die Erinnerung an Salomon Heine, Julius Campe und Julius Kallmes erhalten. Wenn wohl auch nicht für immer, so hoffentlich für lange Zeit. Bis zu diesem denkwürdigen Tag hat Otto seinen Kindern nie über seine Herkunft und die Geschichte seiner Familie erzählt, er wollte, dass sie nicht der Gefahr irgendwelcher negativer Gefühle ausgesetzt werden. Nach seiner Rückkehr von Hamburg schrieb er in einem Text ,My Roots‘ darüber und übergab jedem seiner Kinder ein Exemplar, … und, … und eines schickte er mir. Und ich konnte ihm bei einem seiner späteren Besuche in der Schweiz einen Bericht mit einer Dokumentation über seine Vaterstadt, ergänzt mit vielen Fotos über unsere gemeinsamen Tage dort, überreichen.

Otto war zu dieser Zeit schon von den Anfängen seiner schweren Krankheit gezeichnet. Nicht zu begreifen, dass er die Belastung der Reise und der Wiederbegegnung mit seiner Vergangenheit bereitwillig auf sich genommen hatte. Mit eisernem Willen leistete er heftig Widerstand und erholte sich. So konnten wir uns noch manches Jahr immer mal wieder treffen. Doch im Januar 1998 schlug die Krankheit erneut zu, von da an gab es kein Entrinnen mehr. Nun konnten wir uns nur mehr am Telefon begegnen. Und mit jedem Telefonat schrumpfte die Zeitspanne, die ihm das Schicksal, wie er glaubte und hoffte, noch zubilligen würde: zehn Jahre, beim nächsten Telefonat nur noch fünf Jahre, dann ein Jahr, sechs Monate, dann noch einige Wochen. Er nannte die kleiner werdende Zeitspanne ganz ruhig, ohne Angst und in seinem vollen Einverständnis mit dem, was auf ihn zukommen würde. Oft hatten wir auf unseren gemeinsamen Reisen über das gesprochen, was wir nach dem point of no return zu erwarten hätten. Einig waren wir uns, dass wir es nicht wissen können. Doch jedes Mal, wenn wir erneut zu diesem Statement gekommen waren, neigte er den Kopf langsam nach links und nach rechts und fügte mit bescheiden leiser Stimme hinzu: „Tot, aus die Maus!“ Wir beide wussten, dass in ihm hinter der Maus in Wirklichkeit nicht ein Ausrufezeichen sondern ein Fragezeichen folgte. Im August des selbigen Jahres, an einem Freitag Nachmittag, klingelt das Telefon hier in Trimbach: Otto, ganz klar, mit einigermaßen fester Stimme, ruhig, er sprach Deutsch mit seinem leichten amerikanischen Akzent: „ Wilhelm… ? Wilhelm, ich möchte mich jetzt von dir verabschieden, it‘s over, ich gehe jetzt. Danke für deine Freundschaft.“ Dann kippten seine Worte vollends ins Amerikanische: „Wilhelm,“ fuhr er etwas leiser weiter, „Wilhelm, we will meet again, yes, we will, yes … , in papermakers‘ heaven … , behind the holey roll4, I‘m sure … , bye bye …“ und nach einigen Momenten ein letztes „bye …“

Kurze Zeit später rief seine Frau an: „Wilhelm, it‘s over, he fell in unconsciousness, and a little later Otto easily died.“ So gewährte ihm am Ende seines Endes das Schicksal ein klein‘ Erbarmen, sanft in Frieden hinübergehen zu dürfen.

Freundschaft, die ich meine!

Der Titel dieses Textes ist gewählt in Anlehnung an ein Gedicht von Max von Schenkendorf (1783 – 1817) aus dem Jahre 1813: „Freiheit, die ich meine“, beginnend mit dem ersten Vers-Satz:„Freiheit, die ich meine,
Die mein Herz erfüllt,
Komm mit deinem Scheine,
Süßes Engelsbild.“Dieser erste Vers gilt wie für Freiheit so für Freundschaft.1 Kontorhaus, Hamburg, Jungernstieg 34 in seiner heutigen Erscheinung, rechtes Bild: Tafel zur Erinnerung
an das ursprüngliche Heine Haus, an den Neubau, dessen Architekten und an die beiden Bauherrn

2 Julius Heinrich Wilhelm Campe, (*18. Februar 1846; † 12. November 1909), Sohn des Heine-Verlegers
Julius Johann Wilhelm Campe, war ein Hamburger Verleger und Geschäftsmann. Einen Teil seines
Vermögens stiftete er für die Erweiterung der Hamburgischen Sammlungen von Kunst und Kunstgewerbe.
Die seit 1930 bis 2008 geleisteten Stiftungsbeträge belaufen sich auf fast 15 Millionen €.

3 Julius Kallmes ist in der Quarta genannt in der Auflistung: Höhere Bürgerschule mit Gymnasialclassen zu
Wansbeck, III. 1876 Progr. Nr. 237, Dritter Jahrgang

4… , in papermakers‘ heaven … , behind the holey roll, …
Am Anfang der Papiermachine wird die Suspension aus Wasser und Papierfasern, aus welcher das Blatt auf einem umlaufenden Sieb geformt werden soll, durch eine ,gelochte‘ Walze gepresst, damit sich die Fasern gleichmäßiger verteilen und weniger Flocken bilden. Gelocht heißt auf Englisch holey, abgeleitet von hole = Loch, holey = wörtlich also lochig; die Walze heißt roll, also Rolle. Nun gibt es im Englischen ein dem Wort holey genau gleichklingendes Wort, das aber anders geschrieben wird: holy, und es bedeutet heilig. Spricht man das Wort holey z.B. am Telefon, so kann man nur aus dem Zusammenhang erkennen, ob gelocht oder heilig gemeint ist. Darauf spielte Otto bei seinem letzten Telefonat an, so etwa in dem Sinne: Im Himmel ist alles heilig, in der Abteilung für Papiermacher ist natürlich auch deren Papiermaschine heilig und deren Lochwalze auch, und dort an der Maschine, hinter der heiligen Walze werden wir uns dereinst treffen.

Trimbach/CH, Anfang März 2010