Von dem, der hundert Maler ‚meine‘ nennt
Schon merkwürdig, da gibt es einen Maler, der bisher ein bedeutendes Lebenswerk geschaffen hat und in seinem achten Jahrzehnt unermüdlich in jeder freien Minute mit einer leidenschaftlichen und zugleich liebenswerten Besessenheit Tag für Tag weiter malt. So geht es nun schon sein ganzes Leben. Und als hätte er nichts anderes zu tun – fast, möchte man sagen, so ganz nebenbei –, versucht er sich studierend, denkend, philosophierend und ehrend dem vergangenen Leben früherer Maler, die ihm irgendetwas bedeuten, zu nähern. Diese Annäherung an das Wesen der von ihm aus ganz unterschiedlicher innerer Berührtheit so sehr geschätzten Malerkünstler beschäftigt ihn seit langer Zeitspanne und mit unglaubbarer Intensität. Schließlich ist er derart von den essentiellen Zügen eines solchen Künstlerlebens eingefangen, dass er nicht umhin kann, seine eigene Malerei zu unterbrechen – ja, ich denke, so muss man sagen – zu unterbrechen und wieder eine nächste Widmung an einen weiteren Maler auf die Leinwand zu bringen, an einen Maler, der ihm durch seine enge Beschäftigung mit dessen Lebensweg immer mehr zum engen geistigen Freund geworden ist.
Hammerstiel nennt dieses persönliche Bedenken in Form von einzelnen Bildern – es sind hundert an der Zahl, und man darf vermuten, dass es noch um einiges mehr werden – Hommagen, also Würdigung und Huldigung an einen Menschen, der ihm Vorbild ist. Hommagen im Sinne von Bedenken trifft seine Intention vielleicht sogar noch etwas besser. Es geht ihm in der Bedeutung des Wortes Hommage nicht um eine Würdigung vormaliger Künstler, es drängt ihn, dem Begriff Hommage eine neue Deutung zu unterlegen: Hommage als erinnerndes, durchdenkendes, überdenkendes, von allen Seiten betrachtendes, ergründendes, durchleuchtendes Bedenken.
Wer denkt, ist ein Philosoph. Ein Philosoph ist ein Nach-Denker. Ein Jemand, der allen Dingen, Phänomenen, Verhaltensweisen nach-denkt, hinterher-denkt, sich von allen Seiten her nachdenkend auf sie zu bewegt. Robert Hammerstiels schwere, kantige, rastlose Sprache aber ist nicht die eines Philosophen, die Wörter geschickt und bedacht klug aufreihend und aneinander setzend; darauf versteht er sich nicht, das ist nicht sein Ausdrucksmittel. Die Sprache ist ihm zu träge, zu langsam und zu kurzlebig, einmal gesprochen, ausgesprochen, ist sie schon entschwunden. Auch Schreiben ist nicht seine Sache, der Punkt hat ihm keine Dimension, die Linie nur eine, das ist ihm zu wenig; er braucht die zwei Dimensionen der Fläche, der er geschickt sogar eine dritte Dimension und eine geistige Dimension als vierte abzuringen versteht. Seine Philosophie-Sprache sind Pinsel und Schnittmesser mit all den dazugehörigen Utensilien.
Was will der philosophierende Maler Robert Hammerstiel denkend ergründen, wenn er einem inzwischen verstorbenen Maler ganz persönlich ein ganz persönliches Bild widmet, das nichts anderes zum Inhalt hat, als ein Werk des Verstorbenen, welches Hammerstiel in sein eigenes Bild einfügt und das somit von seinem Werk getragen wird? Was daran ist philosophisch?
Die Hommage Nummer 42 beleuchtet beispielhaft für alle hundert die Zusammenhänge in so wundervoller Weise, eine Hommage an den italienischen Künstler Carlo Carrà (1881 – 1966), entstanden 2003. Man erkennt auf Hammerstiels Bild Carràs Gemälde, eine wohl italienischen Landschaft, genannt ‚Erwartung‘, entstanden 1926, wiedergegeben in einem der Wirklichkeit sehr nahen Stil, anklingend an die florentinischen Meister Masaccio und Giotto mit naturalistischem Element, dennoch nicht realistisch. Wegen der formalen Strenge müsste man Carrà‘s Bild als klassisch-lateinischen Realismus benennen, auch unter dem Begriff ‚Magischer Realismus‘ bekannt. Vor dem italienischen Landschaftsbild als Hintergrund wird das Zentrum den Bildes von einer ältlichen Frau mit einem Hund gebildet, beide richten ihren Blick auf die nähere Ferne, wie in Erwartung eines lang ersehnten Menschen. Carrà‘s Gemälde ist von einer melancholischen, irgendwie sogar mystischen, bedeutungsvollen Schwere, auch magisch. Mensch wie Tier erwarten jemanden, doch scheinen sie sich ihrer Erwartung nicht wirklich sicher. Wohl über Jahre schon warten sie, doch ihre erwartende Hoffnung hat nicht mehr die blühende Kraft von einst. Da gibt es nicht die Hochstimmung, in wenigen Augenblicken den jungen Geliebten wieder in den Armen halten zu können. Vielmehr schwingt die Traurigkeit der Unerfüllbarkeit mit, aber dennoch nicht Enttäuschung, den Erwarteten verloren zu haben.
In diese eigenartige Stimmung zwischen Besitzen und Nichtbesitzen fühlt sich Robert Hammerstiel hineingezogen, die große, vor sich hin meditierende Stille zieht ihn magisch an, er beginnt in dem Bild seine eigenen Erinnerungen bedenkend auszubreiten. Diese unendliche Stille! Die Stille der tragenden Würde. Die Stille der demütigen Ehrung des eigenen Erlebten, das ihn in seinem ganzen Wesen ausmacht. Die Stille, die das Vergangene in sich festhält, es immer und immer wieder in der Seele wägt, abwägt, bedenkt, durchdenkt, überdenkt, und nach vielen Schaffensjahren das menschlich Wesentliche, Typische, das Kollektive der Lebenserfahrung aufscheinen lässt, so als würden sich die Gesetzlichkeiten des Lebens wie Ideen hinter der Landschaft aufhalten und durch sie hindurch auf uns wirken. Vielleicht sind es die Philosophen aller Zeiten, die da aus der weitesten Ferne der Landschaft zu uns herüberblicken. Das ist das Eine, was Carlo Carrà dem Maler Robert Hammerstiel so nahe bringt, dass er ihm Freund geworden ist. Dieses eine Carrà-Bild versetzt des Malers Seele so sehr in Schwingung, dass er ergriffen in Dankbarkeit für dieses Empfinden, das seine eigene schwere Vergangenheit mit einem feinen seidenen Vlies der Versöhnung mit dem eigenen Schicksal überspannt. Diesem so tief empfindenden Malerkollegen fühlt er sich derart eng verbunden, dass daraus wie ein heiliger Zwang die Hommage an Carra entsteht.
In dieser Verehrung für den Vorgänger greift der von dieser magischen, philosophierenden Stille gefesselte Bilderzähler Robert Hammerstiel nun in das Bild des ihm zum Vorbild gewordenen Malers ein und stellt in seiner charakteristischen Malweise einen Erwachsenen und ein Kind mit einem Hund links vor das Carra-Gemälde. Kennt man Hammerstiels Leben, kommt man unschwerlich darauf, dass das Kind der kleine Robert ist, der seine Anhänglichkeit an seinen Hund und dieser zu ihm erinnert. Doch nur vor dem Bild zu stehen, wäre zu ‚vordergründig‘, Hammerstiel erkennt in der Stille des Carrà sein eigenes inneres Leben, er hat diese Stille aus dem Bild des Malerkollege heraus seziert, er hat das Bild des Carrà selbst erschaut, durchschaut, als ein selber mit eigenen Augen Anschauender, als ein Autopsist (altgriechisch: autopsia in der Bedeutung von persönlicher Inaugenscheinnahme). Er durchforscht die Technik des Bildes des Malerkollegen, den Strich, die Qualität der Farbe, die Spuren der verwendeten Werkzeuge, weil diese den geistigen Gehalt des Bildes tragen. Und über allem versucht er diesen geistigen Gehalt in sich aufzunehmen, um ihn so als Sprache der Seele des Anderen aufgreifen zu können.
Hammerstiel erschaut die Stille des Carlo Carrà, die keine Leere ist, die keine Leere sein will, nicht sein kann, da erfüllte Stille. Eine Stille ausgefüllt von der tiefen seelischen Empfindung des Erwartens, welche alle Natur umgreift: Mensch, Tier und Landschaft. Eine Stille, die in sich auf ganz leisen Saiten einen Zug von Wehmut durchklingen lässt (lateinisch personare im Sinne von durchklingen, durch und durch erklingen lassen). Was da durch das Bild hindurch klingt, es klingend erfüllt, das ist das ganz Persönliche(vergleiche: personare), die ganz persönliche, tief in die innersten Schichten der Seele eingelagerte Wehmut. Weh ist Schmerz und Trauer, Mut ist im ganz ursprünglichen Sinne die Gemütsäußerung des Begehrens. So führt das Wort Wehmut zum eigentlichen Kern der Hommage des noch leben dürfenden Robert Hammerstiel an den bereits sterben müssenden Freund im Geiste, Carlo Carrà; es ist im eigentlichen Sinne ein Doppelbild, an dem zwei große Maler tätig geworden sind. Und erst dieses Zweifachbild führt zum Kern der Hommage des noch Lebenden an den bereits Verstorbenen, ja, es hat wirklich mit Leben und Tod zu tun. Man muss Robert Hammerstiel, den Maler wie den Menschen, sehr genau kennen, um diesen ganz untergründigen Zusammenhang zu er-kennen. Hammerstiel hat in seinen prägendsten Jahren, Kindheit und frühe Jugend, ein unendlich Maß an Leid und Trauer in seiner zuvor so friedlich verbundenen Vielvölker-Welt erlebt, als diese in der Zerstörungs- und Vernichtungswut der von allen Seiten geschürten Nationalismen untergehen musste. Er hat die schlimmsten Gräueltaten mit ansehen müssen, welche in die Seele eines jungen Menschen zugleich Wut und Verzweiflung säen.
Die einsame Stille des Malers im Moment des stillen Vor-sich-hin-Malens hat den Maler ganz langsam aus Wut und Verzweiflung zu Versöhnlichkeit und Hoffnung geführt, ihn aus dem ihm zugestoßenen tiefen Leid in kleinsten Schritten erlöst, seine Seele vom schlechten Gewissen darüber, dass er überlebt und leben darf, wo doch so viele Ungezählte und so viele Bekannte, Freunde und Verwandte im Orkan des Hasses sterben mussten, befreit und ihn vorsichtig bereit gemacht, vom Erleben zu berichten, auf dass es nie mehr geschehe. In Carrà‘s Bild, von dem Hammerstiel sich so sehr angezogen fühlt, ist in der Wehmut des Bildes diese Erwartung auf die Befreiung von den Wunden des immer auch verletzenden Lebens und auf die Auflösung eines schlechten Gewissens darüber, dass andere den Verletzungen des Lebens physisch oder auch psychisch erlegen sind, und nicht die Chance der inneren Genesung, soweit sie überhaupt möglich ist, erfahren durften, zu spüren. Carrà, man darf das vielleicht so ausdrücken, hat mit seinem Bild, das Hammerstiel zur Hommage an Carrà verwendet, wie die neunundneunzig übrigen Maler auch, dem Menschen Robert Hammerstiel die Türe des Lebens um einen weiteren kleinen Spalt wiedereröffnet. Das ist das Geheimnis aller dieser Hommagen. Sie sind eigentlich alle dem Leben gewidmet, dem Leben, das trotz Leid und Tod wiedergewonnen werden konnte. Die Hommagen sind eine echte, wahre Huldigung des Robert Hammerstiel an das Leben in Würde.
Diese feierliche und zugleich melancholische Stille der Landschaft wird von den eingesetzten beiden Figuren mit Hund wieder aufgenommen und in die Landschaft zurückgestrahlt. Zwischen dem kleinen Robert und seinem so sehr geliebten Hund, den seine beiden Arme liebevoll umschließen, entsteht ein direkter Bezug zu Carrà‘s Hund. Beide, die Frau und ihr Hund, Mensch und Tier, schauen erwartend in die Ferne. Unsere Frage, wen beide erwarten, bleibt offen. Vielleicht erwarten sie das Leben, das mit dem Zurückkehrenden wieder ins Haus einzieht, vielleicht aber auch erkennen sie in weiter Ferne den Mann mit der Sense, der wohl noch weit weg scheint, den Lebenden noch Zeit zur Erfüllung ihres Lebens zu belassen. Letzteren Gedanken drückt Hammerstiel ganz eindeutig damit aus, dass er mitten in Carrà‘s Bild einen Menschen stellt, dessen Hände Verbindung zum geliebten Tier aufnehmen, dessen Kopf sich als Zeichen der Verbindung in der Höhe des Kopfes der wartenden Frau befindet. Der Tod wartet noch in der Ferne, das Leben ist noch nicht ganz erfüllt. Der Tod ist hier der geduldige Freund des Freundes, diesem zur vollen Lebenserfüllung zu verhelfen.
Und ein Weiteres, das man ahnen kann: der kleine Robert hat seinen Kinderfreund, seinen geliebten Hund, verloren, ein Verlust, den ein Kind nicht so leicht verwindet. Die offensichtliche Anhänglichkeit des Malers Carrà an der gesamten Natur, Mensch und Tier und Pflanze und Erde, das hat den kleinen Robert im großen Hammerstiel berührt und auch über diesen Verlust den seidenen Schleier der Versöhnlichkeit und Aussöhnlichkeit gelegt.
Das leidvolle Erleben hat im Wesen das Malers Hammerstiel eine äußerst hohe Sensibilität für alles, was mit ertragen und leiden verbunden ist, entstehen lassen (lateinisch: pati, patior, passus sum im Sinne von ertragen, aber auch von erleiden). So kann es nicht wundernehmen, dass er für seine Hommagen jene Meister ausgewählt, die selbst einem körperlichen oder seelischen Leiden unterworfen waren oder die zumindest ein starkes Gefühl und mitempfindende Bewegtheit für das Leid in der Welt schlechthin in ihrem Werk haben einfließen lassen. Dem Leiden jedweder Kreatur spürt Hammerstiel nach, in seinen Werken schlägt es sich nieder, in den Werken derer, die es zu ehren ihn drängt, hat er es aufgespürt. Leiden ist ihm Ertragen von etwas, das mit Nicht-Gesundsein verwandt ist. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass nur der ein wahrer Künstler sein kann, der ein Leid durchschritten hat; nur dann wächst die nötige Tiefe und Echtheit der künstlerische Arbeit heran.
Als aufmerksam Empfindender aller Formen von Leiden ist Robert Hammerstiel durch seine Lebenserfahrung und seine Malerei, insbesondere durch das künstlerische Durchdringen der Werke „seiner“ verehrten Maler zum Erforscher, Erkenner und Lehrer des Weh und Ach (altgriechisch: pathos in der Bedeutung von Leiden) geworden, zum Pathologen, der die Schicksale seziert und durchleuchtet wie ein Diagnostiker. Dies hat ihn auf den Weg der Einfachheit, der Bescheidenheit, der Demut geführt. Ihn interessieren die einfachen Leute, die kleinen Leute des Alltags; Glanz und Gloria bedeutet ihm nichts. Die Kleinen dieser Erde malt er, nicht die Großen dieser Welt. Danach hat er die Malerkünstler ausgewählt, denen er im gemalten Zwiegespräch seine Ehre erweist. So mancher Große wie Picasso – der ihm zu unbescheiden, zu laut, zu großspurig erscheint – fehlt in seinen hundert Hommagen. Hommagen an hundert Maler, die er ‚meine‘ nennt, meine hundert Maler.