Den Dorforganisten, von dem ich hier erzählen will, kenne ich seit mehr als sechzig Jahren. Was heißt schon kennen? Kennen, so gut wie man eben einen vieljährigen Freund kennt. Ich treffe ihn immer mal wieder, und dann höre ich ihm gern zu. Das sind immer sehr eindrückliche Momente. Von denen will ich erzählen. In der Kirche, allein nur mit seinem höchsten Chef. Gründonnerstag. Ab heute hat die Orgel drei Tage zu schweigen. Stille an den Leidenstagen des Herren. Er, mein Freund der Dorf-Organist sitzt am äußersten linken Eck der Orgelbank, mit dem rechten Fuß berührt er die letzte Taste des Pedals, das tiefe C, und er empfindet die Berührung mit ihr als die Verbindung zu seiner Vergangenheit; und mit dem linken Fuß berührt er den Boden der Empore, der bedeckt mit einer staubfressenden, faden Massenware von Auslegeteppich, seine Verbindung zur Jetztzeit. Seine linke Hand berührt die Wange des Spieltisches, gerade so, als wolle er sie streicheln. Er redet, mit sich, möchte man meinen, doch es ist nicht er, der ihm da zuhört, es ist sein Instrument, das geduldig und wohlwollend seine Worte aufnimmt. Es ist nicht das erste Mal in seinem langen Orgelleben, wie schon so oft beginnt er:
„Mein Spiel ist im wesentlichen geformt vom Spiel unseres Organisten in meinem Heimatdorf, mehr als fünfzig Jahre zurück. Pi, kurzes i, nannten wir ihn, den Küster, der hier Siegrist heißt. Er kümmerte sich um alles, auch um das Orgelspiel. War ein Naturtalent.
Ich erinnere mich gut, die Liedbegleitungen von Pi waren sehr einfach aufgebaut: Tonika, Unterdominante, Oberdominante und der Septimenakkord, das war damals im wesentlichen sein Repertoir. Wenn es gefühlvoll sein sollte, ganz besonders an Weihnachten, dann musste der Septimenakkord Überstunden machen. Eine wunderschöne Musik, so einfühlsam, wohlwollend, einstimmend, feierlich, das ist meine Kindheitserinnerung an Kirchenmusik. Der Kirchenchor untermalte vor allem zu den Festtagen die feierliche Stimmung mit starker Stimme, wie ich damals fand, in großartiger Weise. Und ich meine das nicht ironisch, denn ich glaube, es war für einen solchen Dorfchor wirklich eine treffliche Leistung.
Natürlich könnte es gewesen sein – ich kann mich zwar nicht wirklich daran erinnern –, dass eine Krähe das Bibelwort von der verlässlichen Fürsorge des Vaters im Himmel für alle Vögel gar sehr wörtlich aufgefasst, im Kirchenraum Wohnsitz genommen hatte und immer ausgerechnet dann mit Krächzen einsetzte, wenn sich die Soprane dem hohen C entgegen bewegten. Auch könnte es gewesen sein, dass man hier und da von der einen oder anderen Stimme am Ende der hohen Leiter der Töne ein Blubb vernommen hat, doch auch solcherart Vorkommnisse wären mir kein Grund, damals nicht und heute erst recht nicht, dem Engagement aller Mitwirkenden, ob jung – ob alt, je jünger – um so mehr, gebührende Würdigung zu widmen. Ob nun die Krähe gemäß göttlichem Plan und Wille Wohnsitz im Hause Gottes genommen hatte oder nur Kraft ihr innewohnender Eigengesetzlichkeit, das hat sich mir nie erklärt. Ich weiß nicht einmal, ob Gott solcher Willensäußerung fähig ist, oder sich in die Niedrigkeiten juristischer Feinheiten von Wohnrecht und Hausfriedensbruch überhaupt herablassen will oder solches zu wollen fähig ist.
Ich liebe die Improvisation, nach Noten spielen kann ich nicht, mein linkes Auge hilft mir nicht beim Lesen, es tut nichts mehr Rechtes, mein rechtes ist als Einzelgänger ständig überlastet. So ist nicht mein Auge, mein mir verbliebenes, nur mein Ohr mein Ratgeber in der Auswahl jeder einzelnen Note. Auf meinem Blatt gibt es nur die Melodienführung, in dicken schwarzen Punkten, rauf und runter, und dazu große und kleine Buchstaben, geheime Zeichen, die mich leiten, jeden anderen verwirren. Die vielen übrigen Noten zu meinem Liedbegleitspiel stehen nirgendwo, nur in den Zeichen, drei mache ich dazu, manchmal zwei, ob vierstimmiger oder dreistimmiger Satz. Orgelspielen hab‘ ich nie gelernt. Orgelspielen hab‘ ich nie gelernt,“ denkt er seinen letzten Gedanken leise nach. „Ich bin ein Organist, aber ich bin kein Organist; verstehen Sie den Unterschied?“ Die so nüchternen Kirchenwände wollen ihm eine Antwort nicht geben.
„Ich möchte schon gern ein großer Organist sein, mit flinken Fingern, die dreizehntönige Brücken über die Tasten in Sekundenschnelle aufbauen und wieder demontieren und dies gleich anderen Orts, so . . . drei Oktaven weiter oben, wiederholen, worauf die Schweizer Pontoniere sich ob solcher Schnelligkeit im Brückenschlagen wie der letztqualifizierte Zahnarzt in diesem Lande vorkommen, der in mühseliger Arbeit endlich nach viereinhalb Stunden eine Brücke über zwei Zahnlücken – von dreizehn gar nicht erst zu reden – zustande gebracht hat, die man in der Elektrotechnik eigentlich einen Wackelkontakt nennt. Und natürlich tät
ich mir wünschen, mit meinen zwei langen, aber inzwischen sich recht ungelenk gebärdenden Beinen ein wildes Furioso aus Bewegungen über diverse Tonsprünge größten Umfanges auf die Knüppeltasten vorzulegen. Und Sie werden es nicht glauben, ich kann es sogar, … aber nur manchmal und dann . . . im Traum. Die Wirklichkeit dagegen sieht viel bescheidener aus, ich müsste sie eher ,Über die Mühen, ein Organist sein zu wollen bezeichnen, das wäre der Sache angemessener.
Doch ich kann nichts anderes als improvisieren. Wilde Toncollagen, Tonschichten, sich durchdr ingende Tonebenen, Ket ten von dissonanten Tonkombinationen. Ich möchte es der Architektur analog dekonstruktivistische Orgelimprovisationen nennen. Es ist das auf die Tasten gelegte Guggenheim-Museum von Bilbao, Sie wissen schon, das von Frank Gehry, oder das in Töne versetzte Stuhlmuseum in Weil, Sie wi … eben, auch von Frank. Aber natürlich ist das Ergebnis meiner Geräuscherzeugung nicht so perfekt wie die Originale, von denen ich mich erdreiste ,abzukupfern. Nicht mehr der einzelne Ton ist mir wichtig, er darf, er soll verschwimmen in einer Schallkulisse. Und wenn meine Finger an Zahl und Geschwindigkeit nicht mehr ausreichen, mag der ganze Arm helfen und so viele Tasten niederdrücken, als er erwischen kann, damit nur ja kein einziger Ton im Spiel verloren gehe. Heißt es nicht, dass Gott alle Töne erschaffen hat; also warum erfrechen wir uns, diesen oder jenen Ton einen falschen Ton zu schimpfen! Er soll sie alle hören.
Man muss Gott mit allem konfrontieren, was er erschaffen hat, wie sollte
er sonst Mitleid entwickeln können.
Jeder Ton und jede Tonkombination ist mir würdig, meine Musik zu machen, meinen Klang darzustellen. Mal klingt der Nebel von Olten, dann die Sonne vom Dürriberg, dann die schwer hängenden dunklen Wolken über dem Engelberg, dann der Silberstreif über dem Säli. Jeder Griff ist mir willkommen. Der Rhythmus trägt die Intensität, schärft die Tonzusammenballungen, schneidet die Tonflächen, bricht die Tonseiten um. Die Unkonstruktion ist meine Musik. Sie soll zerreißen und zusammenfügen, Elemente aufbauen und niederbrechen. Die Unform ist ihre Form.
So will ich es. Was andere wollen, kann ich nicht, will ich auch nicht. Wems nicht passt, der möge seine Ohren schließen. Ich kann nur, was ich kann, und nichts anderes. Hols der Teufel!
So frage ich mich bisweilen, was ist besser, ein Organist, der den Leuten musikalisch die Ohren deformiert, die sich aber dennoch freuen, dass die Orgel sie begleitet und ein wenig Festlichkeit in den Dienst an Gott hineinträgt, oder aber gar kein Organist. Solange mich Gott am Leben erhält, muss ich daraus schließen, dass er zur ersteren Auffassung neigt; so also sei es, dass ich weiter spiele.
Aber, es gibt auch jenes andere Element in mir, das so sehr säkular und profan ist, aber dennoch da, und ich will es nicht verschweigen: Ich darf von da oben her das Geschehen begleiten, viel mehr noch, es leiten. Wie die Gemeinde singt, wie sie sich dabei fühlt, das hängt nicht wenig von der Art meines Spieles ab.
Singen die Singenden nur schleichend und matt und leise mit, dann spiele ich noch leiser als ihr Gesang, auf dass sie bemerken, wie dünnlich es aus ihren Kehlen kommt und sie darob ein wenig peinlich berührt werden. Und schon heben beide, sie mit ihrer Stimme, ich mit meiner Orgel, wieder kräftig an und machen das Lob Gottes zum Laus Dei.
Manchmal, wenn die Umstände, die Stimmung, der Anlass, die Liedwahl und schließlich meine Spielweise zu innigstem Einklang miteinander gelingen, dann werden die Menschen von innen her gegriffen, ihre Seelen lösen sich vom Boden ihrer Leiber und treten aus ihnen heraus in den Kirchenraum, den sie erfüllen, und als Ausdruck höchsten religiösen Glücks beginnen einige Stimmen wie von selbst die Melodie in der Terz, jener wohlig wärmsten Tonstufe, welche die Musik erschaffen hat, zu begleiten.
Orgelspiel ist für mich Meditation, mit Physis und Psyche, mit Leib und Seele, mit Kopf und Herz, und . . . es ist mir vor allem Suche.
Musik ist Suchen.
So ist es, Musik ist Suche: Gibt es Ihn oder gibt es Ihn nicht? Das Gefühl möchte ja sagen, der Verstand muss überlegen. Ist die Schöpfung tatsächlich Gottes wohlgelungenes Abbild? Ist diese Welt überhaupt ein ,Icon Gottes? Oder ist etwas faul an der göttlichen Konstruktion des Um-uns, Über-uns, In-uns. Steht nicht irgendwo geschrieben, oder rede ich mir das ein, mich vor mir selbst zu entschuldigen:
Gott liebt den Zweifelnden
mehr als den Glaubenden,
den Wissenden aber hasst er.
Orgelmusik ist mir ein Hinaustreten aus meiner Welt, aus der Welt, die mich umgibt; ein Eintreten in einen geschützten Bereich, geschützt vor mir selbst und vor der Grobheit der Welt und ihren Verletzungen. Es ist Tönegebet an den, den ich nicht wirklich finden kann oder noch nicht, oder manchmal nur oder vielleicht auch nie. Oder habe ich in längst gefunden, aber noch nicht erkenne, welcher Art seine Präsenz ist. Orgelspiel schützt mich, keiner will dann etwas von mir, ich bin im Spiel improvisierend begleitend oder frei improvisierend ganz frei, nur mit mir, eine Welt gibt es dann nicht mehr. Den Königstönen der Orgel und ihrem inneren Rhythmus ganz nah. Ruhig. Innerlich ruhig. Äußerlich bewegt nur im Mitgehen mit meinem Spiel.“
Er hatte am bunten Glasfenster plötzlich einen dumpfen Schlag gehört, verließ seinen Platz auf der linken Ecke der Orgelbank, ging hinunter, suchte draußen unter dem Fenster den Boden ab, an der Kirchenwand entlang, zwischen den umliegenden Gräbern, es konnte doch nur ein Vogel gewesen sein, war ihm wohl nichts passiert. ,Euer Vater im Himmel…, fiel ihm wieder ein. ,Oder war es die Krähe aus meiner Kinderzeit, die den Einlass ins Gotteshaus verfehlt? Hatte sie zu Gott oder zu mir wollen? Letzteres anzunehmen, wäre unbescheiden, also weg mit dem Fragezeichen und beides so stehen lassen.
Alles schön und gut. Doch auch in der Kirche schläft der stets wachende Teufel nicht. Orgelspiel provoziert im Orgelspielenden ein Gefühl von Bedeutung, ich sitze im Gottesdienst an höchster Stelle von allen, habe die Möglichkeit, das Geschehen zu beeinflussen, ja, in gewisser Weise sogar zu steuern. Ich wage es auszusprechen, es verleiht so etwas wie das Gefühl der Macht, das auch teuflisch sein kann. Es ist die Macht, den Gottesdienst mit einer Lärmorgie bis zur Unerträglichkeit zu stören, ich könnte von der Orgelempore aus sogar den Abbruch des Dienstes an Gott erzwingen, nicht dass ich es täte oder auch nur wollen täte, nein, allein die sich zur Nutzung anbietende Möglichkeit beschwört dieses luziferische Gefühl.
So ist es also, dass Caecilius, der mir zugewiesene Engel des lyrischen Gesanges, rechts neben mir auf der Orgelbank sitzt und mich ein wenig leitet; es bleibt mir aber auch zu bekennen: Immer klettert der auf mich angesetzte Töne- Teufel namens Luzicino auf meine linke Schulter und ist bei meinem Spiel dabei; von Zeit zu Zeit, wenn Caecilius sich gerade wieder mal versonnen schwelgend in eine Terzenkette verloren hat, ergreift er Gelegenheit und zerrt an meinem linken Ohr, Zeichen seines Willens, Einfluss zu nehmen. Und er nimmt, bisweilen.
Hören Sie also:
Wenn ich einen Totengottesdienst zu spielen habe, werden Toten- und Trauerlieder gesungen, aber irgendwann, meist gegen Ende kommt ein Lied, das ich als Kind nur als Osterlied kannte und das nur zu Ostern angestimmt wurde, ein hell strahlender, jubelnder Auferstehungsgesang: „Christus ist erstanden! O tönt ihr Jubellieder, tönt!“, KG Liednummer 439, endend in einem frohlockenden Alleluja. Nun, ich muss also dieses Lied anstimmen, es gehört zu meiner Dienstpflicht, obschon ich ja immer nur für Gotteslohn spiele. Alles in mir wehrt sich dagegen, dieses Lied gehört für mich nicht zu dieser Gedenkfeier.
Wenn Trauer ist, dann ist nicht Jubel.
Ein geheucheltes Halleluja, das man sich einredet oder sich einsingt oder das einem eingeredet wird, ist ein Vergehen an sich selbst. Trauer und Verbitterung, Enttäuschung und Wut auf Dauer zu verdrängen, macht seelisch krank. So will ich also bei Totengedenken das Auferstehungslied nicht singen, nicht spielen, aber ich muss es. Verweigern hieße wohl, nicht mehr orgelspielen zu dürfen. Und darum, mag es teuflisch man nennen, besinne ich mich in diesem Moment auf einen Luzicinischen Trick, nämlich auf die Beeinflussbarkeit des gottesdienstlichen Geschehens durch den Organisten, auf meine Macht; ich lege mein Vorspiel an:
leise, sanft, melancholisch, ich entziehe dem österlichen Choral die starken Dur-Klänge, Moll mag ihm heut genügen, ich nehme den Registern alle hellen Pfeifen weg, spiele kraftlos, schwach, und setze zum Lied kaum stärker als zum Vorspiel an, und dann beginnt der Gesang der Gemeinde, verhalten, dem Anlass angemessen, trauernd, aber gleichwohl die frohe Botschaft nicht vergessend, doch … nicht jubelnd. Subversion nenne ich mein Tun. Ein wenig auch teufliche Obstruktion. Doch so kann ich damit leben.“
Ein Organist ist wirklich des Teufels. Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Organist durch die Pforte des Himmels. Der Höllenfürst schleicht sich ganz heimlich im Gewand der Gewohnheit auf die Orgelempore. Gottesdienst wird zum gewöhnlichen Dienst, den der Organist ableistet. Peu à peu, ohne es zu bemerken ist er zu einem Stativmenschen geworden, er spielt und hört und sieht zu. Wie der Fotoapparat auf dem Stativ. Er nimmt nicht eigentlich, wie es dem Gläubigen geziemen würde, am religiösen Geschehen teil; ist von Registrieren, Noten Durchschauen, Improvisation Überdenken, Rückspiegel Richten, Tastatur Abstauben abgelenkt. Meist sogar wendet er dem göttlichen Geschehen den Rücken zu, die Technik will es so. Er exekutiert einen Dienst, eine Aufgabe. Bestenfalls füllt er sich mit dieser aus, ist er mit ihr ausgefüllt. Auch dies aber will gesagt sein: Zuzeiten, wenn die Predigt wieder mal so ist, wie sie oft ist, fragt er sich, was der da unten so alles über Gott weiß. Ob der schon mal bei dem war? „Wenn der drohend den Zeigefinger erhebt und den Zuhörern – ohnehin kommen meist nur die Braven und die Alten in den Gottesdienst – entgegen schleudert: ,So ihr euch nicht bessert, so ihr … !, ich höre den listigen Teufel, der sich inzwischen schon wieder auf meiner Schulter niedergelassen hat, kichern, und reißt mich der Gedanke: ,Wenn es eine Hölle gibt, dann muss Gott ein Sadist sein, wenn er einen einzigen Menschen dort einsitzen lässt; was immer auch einer in seinem Leben Schmutziges und Böses getan hat, Fegefeuer, entsprechend der Schwere des Vergehens in die Länge gestreckt, müsste genügen; aber auf ewig, – wissen Sie, wie lange das dauert, ich sags Ihnen,
es dauert ewig und drei Tage und endet nie – das wäre unchristlich im höchsten Maße, denn es ermangelte der christlichen Barmherzigkeit. Sind nicht irdische Qualen schon genug der Strafe, ist das Weiterleben-Müssen mit der bösen Tat nicht schon genug der Strafe? Zerrinnt das Leben im Dunkel dieser Erde, dann wäre Letzteres an sich schon genug der Strafe. Sollte es die Ewigkeit geben, dann mag sie noch etwas der Strafe anhängen, aber nicht für ewig, und schon gar nicht drei Tag mehr. Will mir scheinen oder besser, will mir fühlen.“
Und er sieht alles Menschliche, von oben, eben wie durch die Linse eines Fotoapparates, versteckte Kamera. „Was haben meine Augen, schuldigung, mein Auge, da nicht schon alles gesehen. Einer dreht sich um, schaut neugierig zur Orgel, wer spielt heute, der Drang, den Kopf zu drehen, lässt sich nicht unterdrücken, obschon es da oben auf der Empore nichts zu sehen gibt, da kann man nur hören, zuhören, hinhören, aber nicht hinsehen; zwei tuscheln immer wieder miteinander, die Katze ist in der Nacht gestorben; Unruhe kommt auf, Nase-Rümpfen, etwas hörbar Menschliches musste passiert sein, die Kinder kichern und quetschen die Nasenlöcher zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen; jemand kratzt sich dort, worauf er sonst sitzt; eine rupft in selbiger Gegend durch ihr Obergewand hindurch etwas zum Untergewand Gehörendes zurecht; jemand hat beschäftigt die Hand in der Hosentasche, als ginge ihn das alles nichts an; einer steht unruhig von einem Bein auf das andere, er scheint dringend müssen zu müssen, aber er geniert sich hinauszugehen, und wo sollte er sich auch des Müssens unbemerkt befreien. Menschen sind Menschen, auch vor ihrem Gott; schließlich hat er sie als so menschelnde Wesen gemacht, soll er in seinem Hause auch mitbekommen, was er da gemacht hat.“
Der Orgelspielende sieht die Menschen von oben, ihm entgeht nicht ihr Leid, ihre Trauer, ihre Wünsche, ihre Freude. „Und manchmal kann ich meinem Auge nicht trauen: eine junge Frau, mit riesig großem, rotem Hut, ein Blumengesteck oben drauf, wunderschön anzublicken, eine Augenweide: Gott in der Höh sei Lob und Ehr, Lied Nr. 73, ja, Preis und Ehr auch für den wundervollen Anblick dieses Frauenbildes mit rotem Hut, das er mir da geschenkt.“
Ein Organist er sieht alles, er spürt alles, und schnell ertappt er sich einmal auf unlauterem Gedankenweg, ganz unheilig. Nein, ein Organist kommt nicht leicht in den Himmel. Sein Weg dahin ist nicht steinig, felsbrockig ist er. Als Organist wird man leicht zynisch. Man erfährt von den Spannungen in der Gemeinde, den Krächen, von den Streitigkeiten. Die Maulereien über die eigene Kirche und deren Amtsträger. Manchmal scheint es: kein Gedanke an Jesus, nein, ihre Streitereien im Kopf. Und jeder will es besser wissen. Das alles muss einen Organisten stumpf, sarkastisch, zynisch, zweiflerisch, ungläubig machen.
„Und warum spiele ich allsonntäglich. Es ist meine Form der Religiosität. Es ist der verbliebene dünne Faden zu meiner Kinderfrömmigkeit. Wie war sie doch so hilfreich, sie hat mich in den vielen Bombennächten des Zweiten Weltkrieges beschützt, hat mich die Mordkommandos, die alles niederrollenden Panzervorstöße, die brutale Bombardierung meiner Heimatstadt, die Sprengung unseres Luftschutzbunkers, in dem wir Kinder gerade Schutz suchend zusammengekauert, vor Angst zitternd und ,Maria breit den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus singend an unsere Erzieherin, die Ordensfrau Schwester Luise klammerten, all diese traumatischen Ereignisse hat sie, diese kindliche Frömmigkeit, mich überleben lassen.
Und was mich in meinem Dienst so traurig macht: Das Mystische, Sprache meiner Seele, Ursprung aller religiösen Kraft, ist aus den weißen, hellen Kirchen des Verstandes, die nur mehr als Tempel der Ratio in dieser Zweckwelt herumstehen, verschwunden, man hat es aus der Liturgie entfernt und diese dadurch banalisiert. Gott muss wohl erklärbar werden, da er der Moderne nicht mehr glaubbar erscheint. Der Verstand ergeht sich in orgiastischer Selbstgefälligkeit, die Seele aber darbt.
Demut ist zum Unwort der Zeit geworden.
Orgelspiel ist mir: für mich sein, in Ruhe gelassen sein, in meinem Planquadrat geschützt sein, spielend im Klang mich hinter die Welt durchfragend. Und vor allem ist es eine Freude, dass ich das kann, was ich kann, auch wenn es nicht viel ist, aber es reicht, dort oben spielend sitzend geduldet zu werden. Eine Freude, dass ich es darf. Keineswegs unbescheiden. Und eine Freude, dass es Menschen gibt, die sich an meinem Spiel erfreuen und so meine Freude zu spielen mit mir teilen.
Und wenn ich, wie auch immer es zugehen mag, in Gefahr gerate, vermeintlich oder wirklich, das Gefühl in mir ausbricht, der Anfang des Endes könnte angebrochen sein, dann finde ich mit dem Gedanken, noch zum Orgelspiel gebraucht zu werden, die innere Ruhe und vor allem das Vertrauen, die Situation zu überstehen, wieder zurück. Ist die Gefahr überstanden, zieht das Hin und Her zwischen Verstand und Herz wieder in mir ein: ,Ist er oder ist er nicht? Liegt der Sinn des Lebens nur darin, dass man dem Leben einen Sinn gibt? Oder gibt es die Verankerung eines letzten Sinnes in einem Höheren, das uns nur als Ahnung zugänglich wird? Ist das Geistige nur eine Funktion von kühn angeordneter Materie? Oder steht am Ende des Zerteilens der Materie in immer kleinere Teilchen doch noch etwas strukturgebendes Geistiges, das nicht mehr teilbar ist? Um Gottes Willen, nun habe ich fast den Einsatz des nächsten Liedes verpasst: Lied KG 236 ,Nun danket alle Gott. Nein doch, heute schweigt die Orgel.“
Schweigend, nachdenklich nachdenkend, er sitzt noch immer am äußersten linken Eck der Orgelbank. Er, mein Freund, mein alter ego. Er ist ein Organist, aber er ist kein Organist. Verstehen Sie, was ich meine?