Als Student hatte ich mir ein so genanntes Kabinett im Haus Münzgrabenstraße 102, im ersten Stock gemietet. Ein Kabinett gilt in Österreich als ein schmales Zimmer mit einem einzigen Fenster und zwar an der kürzeren Wand. Die meisten Studenten wechselten im Laufe ihres Studiums ihre Unterkunft mehrmals, weil irgendein Umstand ihnen nicht zu Pass war. Chacun à son goût. Ich hielt es anders. Ein Wechsel hätte mich zu viel Zeit gekostet, auch das Umgewöhnen lag mir nicht. Ich hatte über mich gelernt: Die höchste Leistung im Studium war mir zu erzielen möglich, wenn alle Umfeldbedingungen konstant blieben. So wohnte ich also von Mitte März 1959 bis Mitte Juli 1962 bei meinen Wirtsleuten, wie ich sie zu nennen pflegte: Wilhelm und Hilde Goeken.
Damit ich nun nicht in meinem Kabinett essen würde, etwa Frühstück und Abendbrot, sonst hätte ich doch den schönen Parkettboden und die gepflegten Stilmöbel der Gefahr entsprechender Gebrauchsspuren ausgesetzt, hatte ich das eigentlich amüsante Privileg, morgens und abends bei meinen Gastleuten mit am Küchentisch zu sitzen. Ich durfte meine Milch auf ihrem Herd aufwärmen, meine Brote streichen und verzehren und mit ihnen plaudern. War irgendwie immer interessant für mich. Und beide nahmen auch regen Anteil an den Fortschritten meines Studiums, sie entwickelten als kinderlos gebliebenes altes Ehepaar sogar einen gewissen Stolz, als sie nach und nach erkannten, mit welchem Eifer und welcher spartanischen Bescheidenheit ich mein Ziel verfolgte. Und nebenbei konnte ich an so manch eigenartiger, bisweilen lustiger Begebenheit teilnehmen. Sie schauten irgendwie sogar auf mich, äußerten ihre Sorge um meine Gesundheit, wenn wieder mal wohlwollend meinten, ich würde es mit meiner Zielstrebigkeit doch ein wenig übertreiben.
Ein mir unvergesslicher Vorfall war ein Erlebnis mit den beiden Kindern der im hinteren Parterre eingemieteten neuen Hausbewohner, der Familie Wotruba. Sie eine schlanke, gut figurierte Frau, schnell- und vielredend, vom Schlage der Georges Bizet‘schen Carmen, eine gewisse Verblasstheit ließ durchaus auf vormals rassige Erscheinung schließen, ein leichter Hang zum Überzeichnen war ihr eigen, der Verputz schon ein wenig rissig. Dann gab es da ihre beiden Kinder, ein Mädchen von vielleicht fünf, ein Junge von etwa drei Jahren, überaus herzige Kinder. Dazu gehörte auch ein Mann, Vater der beiden, wenig sichtbar, vermutlich, weil er hart arbeiten musste. Dies schloss ich aus der eher bescheidenen Wohnung zum Garten hinaus, niedrig, eng, auch etwas feucht, einst wohl Behausung der Bediensteten der im ersten Stock wohnenden Herrschaft. Mein Hausherr hatte Freude an der französischen Sprache, ein Relikt aus seinen Jugendjahren auf der Handelsschule; ihm ging ein feiner Sinn für rassige Weiblichkeit à la Française nicht ab, sprach nur von Madame de la Wotrube. Er ließ das ube – französisch ausgesprochen – wohlig und genüsslich dehnend über sein Zunge abrollen: ube … , u wie ü, ganz weich rund nachklingend das b und stimmlos das e, etwa so: Wotrüb, Madame de la Wotrube. Charakterisierte zugleich auch treffend die Gemeinte. Und zumeist wiederholte er die von ihm französisierte Namensversion mehrere Male hintereinander, um seine Freude an der wohlklingende Aussprache der zweiten Namenssilbe zu dehnen und dabei zu genießen.
Es war an einem Nachmittag, Madame de la Wotrube schien zu Erledigungen in der näheren Umgebung unterwegs, ihr Mann wie immer bei der Arbeit, die Kinder für eine kurze Zeit allein zuhause. Die Mutter hatte sich vermutlich verspätet, den beiden Kleinen wurde langweilig, daraus erwuchs ihnen die Idee, sich die Kleider der Eltern anzulegen. Die herumstehenden großen Schuhe waren wohl Anlass zum Vorhaben. Der Bub schob kicksend seine kleinen Füße in die Weiten der väterlichen Fußbekleidung, seine Schwester warf ihm Vaters unendlich große Jacke um, in welcher er schon fast verloren ging, dann eine Krawatte aus dem Kleiderkasten, deren Knoten sowohl in rechter Bindung als auch in angemessener Kleinheit lange nicht gelingen wollte, zum Schluss das Prachtstück, Papas einziger Hut, dem Kindergesicht übergestreift stützte der sich auf den Schultern des Kleinen ab, so dass der fast im Dunkeln stand. Aber gerade das in den Dimensionen so fürchterlich Unpassende machte den Kindern kindliche Freude. Nun die junge Dame ausstaffieren: Mutters frisch gewaschene Bluse, darüber ein blumenbedrucktes leichtes Kleid, ein leuchtendes Halstuch und obendrauf der große rote Hut mit gelber Rose. Kinder, war das eine Pracht! Welch‘ ein Gefühl. Fehlte doch noch was, Handschuhe und … natürlich, ja Fußschuhe. Wo waren die nur, die mit den komischen Absätzen, ach ja, unter dem Bett. So, das war‘s. Plötzlich aber verebbte das lustige Kichern: Ja, was denn jetzt? Die Langeweile, Plagegeist so vieler Kinder groß und klein, ernüchterte sie beide. „Komm Mucki, ich weiß, was wir tun, komm, fass meine Hand!“ Das Mädchen ergriff die kleine Hand des Brüderchens, öffnete die doppelte Wohnungstüre, mehr die Schuhe schiebend als in ihnen gehend, überquerten sie die Hausdurchfahrt und gelangten unbeholfen zur zwar breiten, aber kräftig ausgetretenen hölzernen Halbkreis-Wendeltreppe, die für die beiden Kleinen zum erheblichen Beschwernis wurde, weil die Tritte vom großen Treppenradius zum kleinen hin spitz zuliefen. Die Sache erwies sich als halsbrecherisch, aber Fräulein Wotruba gab nicht auf, entschlossen zog sie das regelrecht torkelnde Geschwister hinter sich her. Unter Geklapper und Gepolter der lockeren Schuhe erreichten die Beiden die oberste, etwas zu schmale und daher unkomfortable Treppenstufe, hielten vor der Eingangstüre zum Wohnbereich des ersten Stockes, leicht unschlüssig und wohl auch hinter Atem, inne. Liesl, die Schwester, verunsichert durch ihren eigenen Einfall, griff zögernd auf die im schlecht beleuchteten Wendeltreppenhaus kaum sichtbare Klingel in der Mitte der Türe, ein Relikt von Annodazumal, ohne Knopf, ohne Strom, nur mechanisch durch Hin- und Herdrehen einer Art halbrunder Klinge zu betätigen. Rasch zog sie ihr Ärmchen zurück. Stilles, gespanntes Warten. Sie drückte die altmodische Messingklinke, die ebenso altmodische, aber schöne Haustüre wich in den Vorraum hinein zurück.
Innen hörte man die Küchentüre sich öffnen, die Vermieterin oder Wirtin oder, wie sollte ich sie nennen, mein Studienfreund Nihil nannte sie eine Fettl, wir im Rheinland würden sagen: Fuchtel, Dragoner, Kratzbürste, wie auch immer, die Vielnamige stand im Türrahmen, die abgearbeiteten Hände in den Hüften abgestützt, ihre dickbestrumpften Beine schauten wie ein umgekehrtes V aus dem fahl braunen abgetragenen Hausrock, den sie als eine Schoß zu bezeichnen pflegte, hervor. Darunter trug sie eine dickwandige Hose, die bis zu den Knien reichte. Woher ich das wusste? Die Wäscheleine über meinem Platz in der Küche hat es mir verraten. Diese Art von Beinbekleidung nannte ich Schalldämpfer, – meine Schwiegergroßmutter, Omilette Agnes selig, nannte derart Untergekleide Liebestöter –. Welch‘ eine Preziose möchte man schon in solch‘ rauhe Schale hüllen? Frau Hildens Unterkiefer, den sie normalerweise wie bestens geölt in schnellen Wechseln zur Erzeugung ihres nie enden wollenden oder auch nie enden könnenden Redeschwalles aufwärts und abwärts in Betrieb setzen konnte – nach Art der Nadel einer Nähmaschine – verharrte schlaff in abwärtiger Endposition, ein Zustand, solchen je beobachtet zu haben, ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann. Der eingetretene Zustand des Schweigens dieser Frau, nach deren Tod man gemäß meiner Einschätzung ihre unternasige Sprechvorrichtung unbedingt würde erschlagen müssen, damit ihre Klappe endlich einmal stillstünde, war ein wahres Bild für die Götter. Und nicht nur für diese. Übrigens ihre Zunge, nein, nein, nicht die der Götter, die ihrige, meine ich, das kann ich beschwören, endete wie die erwähnte Nähmaschinennadel, nämlich in einer scharfen Spitze, äußerst schmerzhaft für jenen, den sie traf.
Das kleine Mädchen fasste sich als erstes und bot damit meiner Wirtin die Chance, ihr Mundwerk wieder ins Leben zurückzuholen. Ihre Zunge taumelte förmlich im Innenraum ihrer von Zähnen entleerten Esshöhle, als wollte sie das Werk erneut kräftig nachölen. Zur ersten Schließbewegung kam sie nicht, denn Fräulein Wotruba richtete ihren kleinen Kopf unter dem roten Hut mit der breiten Krempe nach oben, um ihr Gegenüber überhaupt ins Gesichtsfeld zu bekommen, und begann das Sprüchlein, das es sich wohl bedacht ersonnen und gemerkt hatte, fest und gepflegt und mit allem Ernst aufzusagen: „Wir sind Frau und Herr Wotruba,“ sie zeigte auf ihren kleinen Bruder, als wenn sie das beobachtete Autoritätsgefälle in der unteren hinteren Mietwohnung beispielhaft wiederzugeben beabsichtigt hätte, „wir sind die neuen Untermieter und möchten uns gern bei Ihnen vorstellen.“ Meine Fettl-Wirtin hatte sich während dieser Worte wieder gefangen, sie war wie gesagt kinderlos geblieben, aber musste sich doch berührt gefühlt haben, berührt vom Anblick der vor ihr ablaufenden Kinderszene. Wie hätte man diese beschreiben können, so viele Farben liefen da zusammen: die Lieblichkeit dieser kleinen Geschöpfe, ihre Unbekümmertheit, die Selbstverständlichkeit in beider Gesten, die nicht zu steigernde Drolligkeit ihrer karnevalesken Aufmachung, das Schalkhafte in den Kinderaugen, die Ernsthaftigkeit ihres Tuns, aber auch das etwas Ulkig-Groteske. Meine Frau Wirtin zu überwältigen, unvorstellbar, doch die beiden Kinder schafften es mühelos. „Oh, das freut mich“ – nicht uns sagte sie sondern mich – „das freut mich sehr, ich möchte Sie gern kennenlernen, kommen Sie doch herein, darf ich Sie auf einen Kakao und Keks zu mir in die Küche einladen.“ Auch sie, die Frau des Herrn Wilhelm Goeken, ließ unbewusst erkennen, wo die berühmten Hosen der Macht getragen werden, unter dem fahl braunen abgetragenen Rockfetzen, nicht in der abgetragenen Haushose mit den ausgebeulten Knien ihres ihr zugetrauten. Ihr Mann saß am Küchentisch, er nahm die Zeichen der Macht wie immer mit einem abweisenden Handzeichen nicht zur Kenntnis. Seine weise Gelassenheit imponierte mir nicht nur damals.
Aber was dann geschah, es war nicht zu fassen … , für Frau Goeken nicht, für mich nicht, nur der vermeintliche Hausherr nahm es ganz gelassen, wie er in seinem Alter von etwa fünfundsiebzig Jahren alles gelassen nahm.
Kinder haben für besondere Ereignisse oft einen fein ausgeprägten Riecher, so wie mein vierbeiniger Freund, der Gasthund Falco aus Solothurn: Liesl nämlich zog die Nase in ihrem Gesicht zusammen, indem sie bei geschlossenem Mund die Lippen nach oben schob, die Mundwinkel nach unten, ihre Augenlieder bogen sich von der Nase ausgehend ebenso nach unten, ihr Gesicht wurde streng, als wollte sie auf diese Weise von vornherein jeden Einspruch gegen das, was sie bekannt zu geben hatte, ohne Pardon abwehren. Unglaublich, wie bewusst sie zugleich unbewusst diese Aufgabe anging, ohne die Contenance zu verlieren. Etwas unbeholfen und auch gestelzt improvisierte sie: „Madame,“ – dieses Wort kannte sie natürlich von meinem Hausherren – „leider können Frau und Herr Wotruba Ihre Einladung nicht annehmen, Herr Wotruba hat soeben in die Hose gemacht.“ Jetzt war es heraußen, das Problem hatte sich eine Etage nach unten verschoben, obschon sich die Kinder doch noch im ersten Stock befanden. Sie beide sowie jedermann von aufrichtigem Mitgefühl konnten nur hoffen, dass es, das Problem, nicht offen zu Tage treten würde. Auch meine Fettl, auf pingeligste Sauberkeit bedacht und ihren penetranten Putzfimmel befriedigend, hoffte solches ebenso. Mit ernstem, verständnisvollem Gesicht öffnete sie die altmodische Türe zur Stockwerkwendeltreppe, als ob sie den Bürgermeister der Stadt nach K. & K. Hofzeremoniell hinausgeleiten müsste. Sie drückte die gealterte Türe ins ebenso alte Schloss und drehte den großen geschmiedeten Schlüssel um. Hätte sie den Kindern helfen sollen? Sie tat es nicht, sie konnte es nicht, verfügte über keinerlei mütterliche Erfahrung im unkomplizierten Umgang mit solch einer zur Unzeit hervorgetretene und abgesunkenen Sache. Irgendwie betroffen verschwand sie in der Küche, wo ihr Mann die Ereignisse weder über Nase noch über Augen mitbekommen und die Szene nur als Hörspiel wahrgenommen haben konnte. Ich stelle mir vor, er winkte mit der Hand gelassen ab, als seine Frau Hilde berichten wollte. Irgendwie war er gegen die Molesten des Alltags seiner Umgebung längst immun geworden.
Den Gipfel zu erstürmen, ist eines, ein anderes der Abstieg, oft noch viel schwieriger. War der Aufstieg durch die Wendeltreppe in den schlapfenden Schuhen für den kleinen Kerl schon halsbrecherisch genug, nun tat er mir wirklich leid. Seine staksigen Abwärtsbewegungen glichen eher dem Stelzen eines breitbeinigen Storchen im fauligen Salat, ein Storch, der eine schwere Last mit sich zu tragen hatte. Im Falle des braven Mucki konnte dies aber von der Natur der Sache her nicht sein, denn die Sache drinnen oder draußen machte gewichtsmäßig keinen fühlbaren, Unterschied, doch das Fühlbare selbst war dem Kleiner verständlicherweise äußerst unangenehm. Es war die Beschaffenheit der Sache, welche die Umständlichkeit des Stiegenabstieges des Kindes in Papas Bekleidung zum Grunde hatte. Und natürlich bescherte die abgetragene Holztreppe dem tapferen Patscherl weitere Unbill. Hinzu kam, dass der Treppenabgang, der peinliche Weg zur Entsorgungsstelle der fehlgeleiteten Sache, von den Kindern unangenehm länger empfunden wurde, als sie es unter normaler Sachlage wahrgenommen haben würden. Der Bub kletterte bedächtig wie auf einer Leiter rückwärts die Treppen hinunter, hielt sich mit der Linken an der nächsthöheren Stufe an, seine Rechte lag fest in der kleinen Hand seiner Schwester, die sich angestrengt darauf konzentrierte, ihrem kleinen Bruder Halt zu geben. Das Knarren der zufallenden äußeren Türe der Mietwohnung, parterre, nach hinten, teilte mir die Rückkunft der Kinder in ihrem Zuhause mit.
Das war‘s und so wa(h)r‘s.
Die Vereinigten Bühnen der Stadt hätte die Kinderszene im Theater nicht besser spielen können als diese beiden mir unvergesslichen bleibenden Kinder.
Trimbach/Schweiz, Februar 2012