In der Stadt Graz erstreckt sich der Stadtpark in einem langen Streifen ein Stück weit außen um die Altstadt herum. Eine vornehme, immer freundlich grüßende Dame mit tief dunkler Sonnenbrille und weißem Stock verlässt tastend jeden Morgen ihre Wohnung in der Glacisstraße, durchquert an einer möglichst schmalen Stelle den Stadtpark so zu sagen querfeldein und gelangt dieserart auf kürzester Entfernung zum Bürogebäude am Burggraben, in welchem sie als Telefonistin ihren Dienst tut. Niemand hatte je Einspruch erhoben, dass sie nicht die längeren, befestigten öffentlichen Parkwege genommen.
Würde sie nun die vielen Pfade, die sie sich im Laufe der Jahre an den Eichhörnchen und Bäumen, Statuen und Gedenksteinen vorbei ergangen hat, in ihrem Gedächtnis aufgezeichnet haben, dann hätte sie ein Netz von Pfaden vor sich, deren Beschreiten sie zu ihrem Arbeitsplatz führt, oder umgekehrt ausgedrückt, sie hätte einen Plan von den Orten aller Dinge, an die sie im Lauf der vielen Jahre irgendwann einmal angestoßen ist, weil sie ihrer querenden Absicht entgegenstanden. Natürlich ein Plan ohne Eichhörnchen!
Die ‚Entgegenstände‘ sind für sie Gegenstände, über die sie nichts mehr weiß, als dass sie ihr entgegenstehen, vom Schicksal Entgegen-Geworfenes: Lateinisch ob-jectum, wir sagen Ob-Jekte. Sie gewinnt also kein wirkliches Bild des Stadtparks, noch eines über die Art der Gegenstände, noch über die Beschaffenheit des Rasens und der Wege, und das, obschon das erinnerte Netzwerk in ihrem Kopf genau in den Stadtpark passt. Und es passt in keinen anderen als nur in den Grazer Stadtpark. Das Bild, das die blinde Telefonistin in sich konstruiert hat, ist ein Abbild ihrer Negativ-Erfahrungen, eine Ikone von Widerständen, von Beschränktwerden, von Fehlschlägen, von Versagen und gar von Scheitern, das ihr aber dennoch sehr nützlich ist, nützlich, um erfolgreich durch den Park zu gelangen und ihre Wege durch ihn hindurch zu optimieren.
Unsere Fähigkeit zu sehen, liefert uns im Vergleich zur blinden Dame ohne Zweifel mehr Informationen über die Dinge dieser Welt. Da aber alle unsere Wahrnehmungsinstrumente im Laufe der Evolution von den Signalen, welche die Dinge als Reize zur Reizung unserer Sinne aussenden, und nicht von den Dingen selbst approbiert wurden, können wir nicht anders, als mit diesen Reizen ein Bild in uns zu konstruieren, das ein Abbild der reizauslösenden Signale der Dinge ist, nicht aber ein Bild der Dinge an sich, d.h. nicht eine Ikone der Dinge in ihrer objektiven Wirklichkeit.
Einmal, als ich die freundliche Dame auf einen kleinen Braunen ins Opernkaffee einladen wollte, winkte sie mit einer vornehmen Geste ab: „Ach, wissen Sie, dort starren die Leute mich immer so an, obwohl es nichts zu sehen gibt, und ihre Blicke sind für mich so hart wie Gegenstände. Kommen Sie, begleiten Sie mich auf einem kleinen Spaziergang durch den Stadtpark.“ Sie hängte sich bei mir ein, dann schaute sie mich mit ihrer dunklen Sonnenbrille an, als wollte sie sagen: Gehn wir. Und wir schritten sicheren Fußes über die erst kürzlich neu gepflasterten Gehwege. „Sehn Sie,“ nahm sie das Gespräch wieder auf, „ich bin ein zufriedener Mensch“, „ich lebe gern, und ich finde mich gut zurecht in meiner Welt. Es gibt nur diese.“ Und sie dachte, ohne es auszusprechen: „ ‚Es ist so wie es ist, und darum ist es gut so‘. Nora Joyce hatte mit ihrem Leitspruch schon recht.“ . . . „Es gibt nur diese“, hatte die Dame an meinem Arm gesagt, aber dennoch . . . , sie ahnt eine andere Welt, und manchmal überschreitet sie die Grenzen der ihrigen in sich, indem sie diese transzendiert. Den weißen Stock und Ihre Sonnenbrille braucht sie dann nicht mehr.
(entnommen dem Buch »Vom Wandel des Menschenbildes in Philosophie, Kunst und Ethik« von Wilhelm Kufferath von Kendenich, siehe unter Bücher)