Unserem verstorbenen Pfarrer
Bruno Meyer
gewidmet
Siebenundzwanzigster Oktober neunzehnhundertneunzig, es war ein Samstag, der in jeder Woche nach alter Tradition der Muttergottes geweiht ist, und es war der Monat Oktober, welcher der Rosenkranzkönigin zugedacht wird, ebenso alte katholische Tradition. Heute beides nicht mehr im Bewusstsein der Gläubigen. Nicht mehr zeitgemäß, sagen sie. Der, von dem hier die Rede ist, war sein Leben lang ein gläubiger Verehrer der Gottesmutter.
Das Wetter zeigt herbstliche Aufhellungen, gegen zehn Uhr mit fünfzehn Minuten Verspätung haben Brigitta und ich Bruno Meyer, den Pfarrer, in seinem Altersheim in Wangen abgeholt und sind mit ihm nach Einsiedeln gefahren, über Luzern, Zug, Sihlbrücke; er hatte sich’s schon lange gewünscht, und ich hatte es schon lange gespürt, zu gut kannte ich ihn. Eine wunderschöne Herbstfahrt, die Sonne beleuchtete die bunten Blätter durch die lockernde Wolkendecke wie mit einer Taschenlampe und brachte sie in deren Lichtkegel prächtig zum Aufglühen. Im Hotel Bären, wo wir uns vor einigen Jahren mit den Familien Knobloch und Jordans, Freunde aus meiner alten Heimat, trafen, haben wir gegessen, der Pfarrer hatte uns eingeladen. Er war immer spendabel und großzügig.
Als einige Jahre zuvor der letzte Tag seines Dienstes in Ifenthal zu Ende ging, hatte er mich angerufen, ihn am Pfarrhaus abzuholen und in sein neues Domizil, das Altersheim von Wangen, zu bringen. Bei der Familie Hof, einem Zweig aus der Hof-Dynastie in Ifenthal, hatte er noch etwas zu erledigen, den Schlüssel abgeben oder so. Er kam wieder aus dem Hof-Haus heraus, ich hielt ihm die Wagentüre auf und half ihm, seinen Arm fest umgreifend, in meinen Wagen. Er begann in seiner Tasche herumzukramen, dann drückte er mir ein Stück steifigen Papiers in die Hand; später, wieder zuhause in Trimbach angekommen, erkannte ich, dass es ein Tausendfrankenschein war. „Für Ihre ehren-amtlichen Orgeldienste über so viele Jahre in Ifenthal und Wisen“, hatte er gesagt. Das wollte ich doch nicht, meine „Dienste“, wie er es nannte, waren ja ehrenamtlich. Doch ich wog ab: zurückweisen, das hätte ihn wohl doch enttäuscht und verletzt, anzunehmen dürfte der kleinere Schaden für ihn sein, und außerdem dachte ich an einen guten Zweck, dem ich diesen großzügigen zuführen würde.
Heute also der letzte Tag unseres gemeinsamen Dienstes, dachte ich damals. Ich erinnere mich noch genau, wie es angefangen hatte, er war schuld an unserer Zusammenarbeit, am Neujahrstag des Jahres neunzehnhundertzweiundachtzig, ein Samstag Abend, damals gab es noch eine Abendmesse zur individuellen Substitution der Sonntagspflicht, ein in Vergessenheit geratenes Wort. Am späten Nachmittag waren wir mit unseren Kindern in Wisen spazieren, dort ist es meistens schön, wenn in Olten dicker Nebel das Regiment führt, wie so oft. Zum Abschluss wollten wir die Kirche noch kurz besichtigen, nicht als Frömmigkeit, aus rein weltlichen Motiven, aus künstlerischem Interesse. Vorne in der Apsis des Chores stand rechts neben dem Altar an der Wand eine Orgel, die ich unschwer als elektronische Orgel erkennen konnte. Die Kirche, mehr eine größere Kapelle, schien erst kürzlich renoviert. Wie es meine Gewohnheit ist, ich wagte einen Deckelöffnungsversuch, siehe da, er ließ sich öffnen, der Deckel, damals noch behend auf die Orgelbank geschwungen, und los ging’s. Die Kinder waren begeistert: „Weiter, weiter, spiel‘ doch noch was.“ Na ja, Weihnachtslieder, das ging ja gut. Hatte viele Jahre nicht mehr gespielt. Wir hatten die Zeit übersehen, wussten auch nichts von der Abendmesse. Die Kirchentüre ging auf: der Pfarrer; wir kannten ihn noch nicht, konnten ihn aber unschwer als solchen erkennen, auch wenn er nur einen schwarzen Pulli und kein Kollar mehr trug, Zugeständnis an die Moderne. Freundlich-fröhlich kam er daher: „Grüß Gott, übrigens hier sind die Lieder, die wir gleich singen werden, bitte bleiben Sie und spielen.“ Wer konnte diesem offenen und so sympathischen Menschen etwas abschlagen. Daraus sind mehr drei Jahrzehnte geworden.
Wir kamen also in Einsiedeln an. Einsiedeln ist ein hässlicher und geschmackloser Ort, architektonisch durch schwere Bau-Sünden zerstört, kein Gesicht. Die Basilika von außen eher kühl, aber stattlich, imposant, nichts Frommes, ein grünlicher Sandstein; wie das Bundeshaus in Bern, fast eine Festung, mit Fensterumrandungen wie an alten Bauern- und Landgasthöfen. Keine Wärme, kein Charme, Strenge, Kraft und Stabilität, kühle Distanziertheit, Autorität, auch Macht. „Eine feste Burg ist unser Haus“, hätte Martin Luther gesagt, natürlich eine Burg ohne Marienheiligtum, auch klar. Eine feste Burg, ja, eine Schutzburg, die den Gläubigen Schutz vor der Welt gewährt, das aber vermag ich nicht angesichtig der riesigen Fassade empfinden. Doch innen dann, das Paradies!
In langsamen, kurzen Schritten zur Basilika. Die Stufen hinauf waren für ihn sehr anstrengend; obschon wir jede Stufe bedächtig und vorsichtig mit ihm nahmen, Brigitta links, ich rechts von ihm, ihn stützend, da hat der Pfarrer dennoch einen Schwächeanfall bekommen. Der wacklige Herr, trotz des ihn so sehr entkräftenden Anfalls, er wusste genau, was zu tun war. „Halten Sie mich, schieben Sie mich vorwärts, helfen Sie mir auf den Stufen niedersitzen!“
Da saß er dann, Diener Gottes, seinen Heiligenschein auf den Knien, es war nur sein Hut; vor seinem Herren, auf dessen Stufen, eine arme Seele im Katafalk seines gebrechlichen Leibes. Vielleicht eine halbe Stunde saß er da, wie ein Gartenstuhl zusammengeklappt.
Ein Gottesmann, fürwahr.
„Und da kauert er zusammengesunken auf einem schäbigen, unbequemen Armsünder-Schemel, nach den letzten, aller kleinsten Reserven physischer Kraft suchend, sie zusammenraffend. Vires me deficiunt! Nein, einen Diener verlässt die Kraft nicht. Parkinson-zittrig, den Rücken gebogen von der Last Deines Dienstes, als armer Teufel, wie der letzte Sünder, und doch, hätte man an diesen runden Buckel Flügel angesetzt, wie wahr, diese jämmerliche Figur wäre zugleich der Umriss eines Engels gewesen, zumindest aus der Ferne, im gebrochenen Licht Deiner paradiesesgleichen Kirche.“
Eine Stunde hockte er da, wie der Denker von Rhodin, aber erbärmlich abgemagert, dessen kräftiger Arm stützt nicht den denkenden Kopf, nein, ein speichiger Arm hält das Rippengestell, nur noch mit Haut überspannt, auf dass der Oberkörper den betenden Kopf und das sich versenkende Herz nicht nach vornüber fallen lässt. Ein Körper voll von Demut, Reue, Buße, und merkwürdig, darin ein elektrisch unterstütztes Herz, das nur noch kleine Schritte macht, aber voll von spitzbübischem Optimismus und Humor und einem weltabgehobenen feinen Schmunzeln auf den Lippen; der Welt weit entrückt. Eine halbe Stunde mochte er auf den Stiegen gekauert haben. Wir warteten in einiger Distanz, er wollte das so, um nur ja keinen Anlass für irgendwelches Aufsehen zu geben. Plötzlich winkte er uns zu: „Bitte helfen Sie mir aufstehen, ich möchte in die Kirche.“ Er war immer sehr höflich, aber diesmal hatte seine Stimme einen festen Nachdruck, was mich überraschte, weil ich das nie an ihm beobachtet hatte. Nahm mit uns die restlichen Stiegen, als wenn außer seinem Alter nichts gewesen wäre. Dennoch waren Brigitta und ich sehr ängstlich; er könnte uns ja tot aus den Händen gleiten. Er aber dachte an so etwas nicht. Er wollte auch nicht in den Kirchenbänken Platz nehmen, nur auf einem der kleinen unbequemen, dünnbeinigen Schemel gleich an der Ausgangstüre.
Nach einer Stunde saß er noch da auf seinem holzbödigen Schemel. Uns beide hatte er auf einen Kaffee geschickt, er wollte beten. Oder wollte er zugleich auch uns gegenüber höflich sein, auf dass wir auch etwas von dem Tag haben möchten. Ich konnte nicht herausfinden, was war echtes Bedürfnis in ihm und was Rücksichtnahme. Wir waren durch seinen Schwächeanfall so sehr besorgt und beunruhigt, dass wir sofort in seinem Altersheim angerufen haben, um Anweisungen und Rat zu holen, nachdem er doch seine Herzpillen vergessen oder man übersehen hatte, sie ihm mitzugeben. Wir bekamen durch die Leitung des Heimes etwas Beruhigung, gingen aber dennoch zurück in das nur schwach erhellte Kirchenhaus, um von Ferne im Schutz des Dunklen zu schauen, wie es ihm wohl gehe. Er saß unverändert vor seinem Herren. Da wir weder des einen noch des anderen sicher waren, inneres Bedürfnis oder höfliche Rücksichtnahme, wollten wir unbedingt in seiner Nähe bleiben; wir hatten ihn gegen zwei Uhr allein gelassen und sollten ihn gegen vier Uhr wieder holen; so kamen wir dann bereits um drei Uhr, nachdem wir um halb drei erneut von Ferne überprüft hatten, dass er noch unverändert dort saß.
Zurückhaltend und doch mit einer gewissen Bestimmtheit ließ er mich wissen, dass er in die Unterkirche gebracht werden wollte, dort dann saß dasselbe Bündel, das vorher vor dem Gnadenbild der Mutter seines Herrn kauerte, nun vor seinem Herrn selbst; kraftlos hing er auf der unbequemen Bank der letzten Reihe; katholische Kirchenbänke waren schon immer hart, ja, eigentlich schikanös. Zu unserer großen Erleichterung war zufällig seine frühere Köchin, die Berta, auch in der Kirche, wirklich, so ein Zufall; ich habe sie gebeten, auf ihn zu schauen; sie hatte vorhin von weitem den Schwächeanfall auf der Treppe gesehen. Sie war nicht mehr in seinen Diensten, schon im wohlverdienten Ruhestand, so kam sie nicht hinzugeeilt, sondern überließ uns ‚den Fall‘.
Brigitta und ich huschten für eine kleine Verschnaufpause in ein nahegelegenes Kaffee. Auch uns über die Sachlage neu zu besprechen. Ich hatte längst begriffen, was der Pfarrer wollte: die Beichte ablegen, was er natürlich nicht wollte, dass wir es merken würden. Dieser arme Teufel, wem tut der schon was, dieses Knochenbündel, the bony M, es ist doch zu irgendeiner Sünde nicht mehr fähig. Erhoben werden, geehrt werden sollte dieser strahlende Optimist in Christo, dieser wahre Gottesmann in Jesu Weingarten, nicht in Buße im Staub auf dieser harten Kirchenbank hängen.
„Kannst Du, Herr, der Buße nicht genug haben, lass‘ doch diesen Einen aus, lass‘ ihn frei aus dieser Fessel, aus dieser Umklammerung, lass‘ sein Gewissen fürderhin so frei sein, wie es sein christlicher Optimismus ist, schenke ihm doch die innere Freiheit der Vögel, die sorglos dahingleiten und von Dir erhalten werden.“
In der Basilika beginnt um sechzehn Uhr die Vesper und das Salve Regina. Wir begleiten ihn wieder nach oben. Dieser kurze Gottesdienst ist feierlich, einfach und doch prunkvoll: armer Gott im durchlöcherten Kinderhemdchen und mächtiger Gott im Gewand des römischen Imperators. In der Basilika ein Strahlen, kam es von Gott oder ging es von der ergreifenden Frömmigkeit unseres ‚heiligen‘ Pfarrers oder von der Wirkung der fortschreitenden Restaurierungsarbeiten aus: Rokoko würde ich den Stil nennen, in Österreich habe ich das nie gesehen, die Jesuitenkirche in Luzern ist auch so.
Mit dem letzten Ton der Vesper greift unser Pfarrer zum Stock, ich packe Mantel und Hut, seinen schwarzen Heiligenschein, dessen Goldrand an diesem Nachmittag nur Brigitta und ich gewahren, und da er längst bemerkt hat, dass ich weiß, was er möchte, was ihn plagt, Brigitta sich außerdem wenn immer möglich in einer ‚Frau angemessener‘ Entfernung hält, lässt er sich – von mir und von ihm unausgesprochen – dorthin führen, wohin er will, in die Beichtkapelle. Dorthin drängen aber auch einige andere reuevolle Schafe, man muss sich tummeln: offensichtlich ist auch die Vergebung eine begrenzte Ressource, sei es aus inhaltlichen, sei es auch organisatorischen Gründen, was auch immer, man muss eben offensichtlich darum rangeln.
Kein Beichte abnehmendes Ohr ist zu sehen, kein rotes Licht, das dessen Verfügbarkeit ankündigt. Schließlich kommt ein Benediktinermönch, um die Vierzig herum, etwas eckig forsch, mit leicht schneidender Stimme: „Nicht drängen, in dreißig Minuten ist es soweit!“ Vergebung rechnet in Minuten, nicht halbstundenweise. Und mit einer unerbittlichen Handbewegung weist er unseren so bescheidenen Pfarrer wie einen dummen, ungeduldigen Schuljungen in eine der Bänke zurück. Da das Kreuz am Revers unseres Pfarrers durch seinen Mantel verdeckt war, konnte der Kollege nicht ahnen, dass ein Kollege vor ihm stand, dessen fünfzig Dienstjahre zudem nirgends angeschrieben stehen, man aber doch leicht hätte wenigstens erahnen können.
„Wo bist Du, Herr, soll Dein gefälliger Diener nun wieder warten, wie ein alter Mann, den jeder zur Seite schiebt, warten wie der letzte aller Sünder vom heutigen Tag. Vor Schwäche saß er schon auf Deinen kalten Steinstufen, dann auf dem wackligen Büßerschemel, aus Frömmigkeit auf einer Deiner ebenso kalten Holzbänke, wie gedemütigt saß er dort, nicht wie gedemütigt, sondern gedemütigt saß er dort. Und nun tust Du ihm auch das noch an, schickst einen anderen Deiner Tempeldiener, um die wohl fünfundvierzig Jahre jünger als er, und lässt den da forsch diese Zurückweisung austeilen. Gedemütigt hast Du ihn heute schon genug.
Wer so mit seinem Personal umgeht, der muss sich nicht wundern, wenn sein Laden bald nicht mehr geht. Hast Du nichts gelernt aus dem Untergang Deiner allerkatholischsten Majestät, des Kaisers von Österreich, Karl der Siebte, sein Habsburger-Reich ist innerlich verrottet und verfallen, nicht etwa als Spätfolge des Sieges der Schweizer über die österreichischen Heere, sondern weil die Monarchen über Generationen ihre Beamten schäbigst behandelt und abgespeist haben; Ränge und Titel ernähren keinen. Schau doch in Deinen Weinberg und sieh endlich, was sich da heute tut, schaut nicht viel besser aus.“
Vor Schwäche auf den Stufen zusammenfallen, zwei Stunden Beten in der kalten Kirche, dreißig Minuten Vesper und Salve Regina, und jetzt auch noch das. Warten wie ein ausgemergelter, zerzauster Hund.
Übrigens, ich hätte nie gedacht, dass ich einige Jahre später ein ähnliches ‚Trauerspiel‘ würde mit ansehen müssen, als mein Freund aus Studienzeiten, Pater Jordan, auf jämmerliche Weise seinem Ende zuging.
Muss es ehrlich zugeben, ich war innerlich aufgepeitscht von Wut und Zorn, über das, was ich da soeben erlebte. Ein etwas feinfühligerer, etwas einfühlsamerer Konfrater hätte schon am dunklen Gewand unseres Pfarrers und noch dazu unter diesem Dach den Mitbruder erahnen müssen. Ich war über die Maßen empört, in hastigen Schritten bin ich auf den schwarztalarten Mönch zu, – ich war am Ausgang der Beichtkapelle vorsichtshalber stehen geblieben, um stützend meinem braven Pfarrer beizuspringen, falls notwendig, und hatte von dort die Zurückweisung durch den schnittigen Ordensmann beobachten können – meine Worte überschlugen sich, brachen dabei manchmal in Stücke: „Hören Sie, Hochwürden, Herr Mönch, hören Sie, Sie … , Sie, das geht zu weit, das, das geht, das geht einfach zu weit, wissen Sie nicht, ahnen Sie nicht, wen Sie da vor sich haben? Einen Kollege im Herrn, unseren ehemaligen Pfarrer, mit dem können Sie nicht so umspringen, der ist nicht Ihr Schulgspänli, der hat mehr als fünfzig Jahre auf dem Buckel im Dienst an Ihrem Chef, kränkelnd ist er dabei geworden, sehr sogar, das sehen Sie doch, oder? Also bitte, wir sind hier nicht in der Rekrutenschule“ – natürlich war das vorlaut, ich habe doch noch nie eine Schweizer Rekrutenschule von innen gesehen und schon gar nicht in exercitatione erlebt, aber das war mir jetzt egal – „also keine Mätzchen jetzt, klettern Sie in Ihren Kasten da,“ ich zeigte auf den Beichtstuhl, „nehmen Sie dem armen Teufel, dem schuldlosen, sofort und auf der Stelle die Beichte ab.“
Das Blut muss dem Mönch zu Beine gefahren sein, er wurde weiß wie der mit grauen Adern durchzogene Marmor, und hob sich damit erst recht von meinem hochroten Gesicht, ebenfalls von grauen Adern durchzogen, ab. Mein unwirsches Eingreifen hatte Wirkung: Er sich oder sein Chef ihm, ich weiß es nicht, den inneren Antrieb gab zu tun, was angemahnt, die Beichte ward vollzogen, mit positivem Ausgang, musste ich vermuten, denn nach vielleicht zehn oder gar fünfzehn Minuten, schreitet aufrecht der Pfarrer mit erleichtert zufriedener Miene dem Ausgang zu, an den ich mich für die Dauer des Beichtrituals wartend zurückgezogen hatte; er bewegte sich äußerst wacklig und zitternd zwar, doch das Schreiten war nicht zu verkennen, ein inneres, ganz aufrechtes Schreiten, trotz des gekrümmten Rückens. Zufriedenheit ging von ihm aus. Wir verließen das Gotteshaus, er sehr ehrfürchtig, ich doch deutlich weniger. Der Heiligenschein wieder auf seinem Kopf, dieser und er strahlten, sie waren eins, der Pfarrer und sein Heiligenschein.
„Verzeih‘ Herr, ich hatte kein Recht, da einzugreifen. Verzeih‘, aber ich war es ihm schuldig. Also, reden wir nicht mehr darüber. OK?, du schweigst? Also: OK!“
Dankend nahm er entgegen, dass ich das Auto bis ans Portal der Basilika holen wollte, die Zufahrt ist eigentlich verboten. Ihn und seinen Heiligenschein, beides und natürlich noch den Stock ins Auto verpackt, das Brigitta wohlweislich schon herangerollt hatte; aus Vorsicht und um ihn zu beobachten, setzte ich mich im Fond des Wagens neben ihn, nicht so einfach, ein Knochengestell mit Heiligenschein auf den Hintersitz zu verfrachten und zu vertäuen. Er war wie immer Optimist, witzig, geistreich, humorvoll, gottvertrauend, und so plauderte er dahin: „Da in dem Ort liegt meine Schwester begraben, da meine Götti, da haben wir Streiche gemacht, und ich war immer der Erste dabei, der Oberstreichemacher, da war ich beim Militär, dort sind wir mit der Pfadi gewandert. Ach ja, eigentlich waren es doch all die Jahre schöne Zeiten.“ Ich hörte ihn ganz leise ein Danke vor sich hin murmeln, sein schon etwas glasiger Blick ging dabei weit in der Ferne hinaus.
Als wir ihn in seinem Altersheim abgeliefert hatten, waren wir erleichtert. Wer kann das alles verstehen: ein Diener Gottes, oder doch eher ein Knecht seines Herren. Waren wir erleichtert oder waren wir nachdenklich; erleichtert über ihn, nachdenklich über seinen Herrn. Schweigend fuhren wir von Wangen nach Trimbach zurück. Nachdenklich sind wir bis heute geblieben.
Es war das letzte Mal, dass wir ihn gesehen haben. Am Weihnachtsmorgen starb er auf dem Weg zur Kapelle des Altersheimes an Herzversagen. Als hätte er sich Tag und Stunde ausgesucht, am Geburtstag seines Herrn, im Dienst an ihm, kehrte er zu ihm zurück.
„Herr, hörst Du mich, es muss einen Himmel geben, und wenn auch nur für diesen Einen, für den muss es ihn geben, auf dass dieser eine Mensch am Ende seiner Tage nicht in seinem unerschütterlichen Glauben enttäuscht werde. Denn das müsste für ihn die Hölle sein, und die hätte er nicht verdient, er am allerwenigsten.“
Er ist in Niedergösgen begraben, dicht neben der Pfarre seiner Kinder- und Jugendzeit, in welcher er kurz zuvor sein fünfzigjähriges Priesterjubiläum gefeiert hatte.
Er war fürwahr ein wahrer Gottesmann, es ist die Wahrheit.
Requiescat in pace.
Amen müsste ich noch hinzufügen, ich kann es nicht, in diesem Moment.
Nicht vergessen werde ich den Besuch der Basilika in Einsiedeln zusammen mit dem ehemaligen Pfarrer von Ifenthal und Wisen, dem ich so viel verdanke. Er hat mir in seiner integren, eloquenten, humorvollen, christlich-weltoffenen Art diese Gegend hier, in der ich als Fremder lange Zeit irgendwie ein Fremder geblieben war, zu meiner Heimat gemacht.
Trimbach/SO, Februar 2014