Jetzt war ihm klar, nur mehr weglaufen konnte ihm helfen. Und er rannte, so schnell, dass er fast über seine eigenen Beine stolperte, der Rur zu, dem Fluss, der die Stadt durchquert. Warum gerade dorthin? Die Bismarkbrücke war gegen Kriegsende unter der Bombenlast ins Wasser zerfallen, übergroße Ziegelsteinbrocken hatten sich an der steilen Böschung ineinander verkeilt. An ihnen hangelte er sich hinab bis zum Ufer. Da drüben, da, die kahnartigen Boote, von den Amerikanern zurückgelassen, die könnten seine Rettung sein! Obwohl . . . , die beiden Verfolger würden ihm auch hierher nachstellen. Er überlegte kurz, doch schon ließ ihn irgendetwas in ihm einfach flussaufwärts rudern, so kräftig seine ungeübten Muskeln es nur zuließen. Dennoch, der Abstand zu den Verfolgern wurde immer kleiner.

Freiheit ist nur der Abstand zwischen Jäger und Gejagtem, fuhr es durch seinen hastigen Kopf. Er blickte nach vorn, was er sah, machte ihm ein wenig neuen Mut und verlieh seinen Armen wieder etwas mehr an Kraft; riesige Trümmerbrocken lagen da vor ihm im Fluss, denn auch die obere Brücke etwas weiter flussaufwärts, die mit dem heiligen Johannes von Nepomuk, lag im Wasser, wie ein zerbrochenes Rückgrat. Es gelang ihm, sich auf einer zufällig offen gebliebenen, kaum einsehbaren Fahrrinne mit seinem Kahn irgendwie zwischen den Brückenresten hindurchzuzwängen. Wie er erst jetzt bemerkte, versperrte ihm einer der mächtigen Pfeilerstümpfe einen Moment lang die Sicht zurück auf seine Verfolger. Das war seine Chance, da auch sie ihn nicht sehen konnten.

Die Verfolger näherten sich, vorbei an dem hilflos im Wasser liegenden Nepomuk, der seinen Heiligenschein verloren hatte. Just in diesem Moment kam ihnen jemand in aller Gemütsruhe in seinem Kahn zwischen den Trümmern heraus entgegen, eine bunte Mütze auf dem Kopf, den Schirm nach hinten in den Nacken geschoben, eine US-Army-Jacke lässig über die Schultern geworfen, sorglos und laut singend: . . . a long way to Tipperary, it’s a long w . . . . „Haben Sie jemanden vorbeirudern sehen, ganz schwarze Kleider, wie weit ist der“, riefen die Verfolger mit einem drohenden Unterton in der Stimme. „Yes please, he can’t be very far from here, kleine distance only, no guter Ruderman.“ Schon mühten sich die Zwei ab, einen Durchlass zwischen den Brückentrümmern hindurch zu finden.

Er aber ruderte flussabwärts, nun wieder mit kräftigen, entschlossenen Schlägen, bis zur großen Eisenbahnbrücke, die nicht getroffen worden war. Hinter dem rechtsseitigen Uferpfeiler sprang er an Land, wand die Kette des Kahns mehrfach um einen großen Stein, warf die US-Jacke samt Schirmmütze in das Boot zurück und schlug sich zwischen den Trümmersteinen, die einmal die Stadt Düren gebildet hatten, so schnell er konnte, zu seinem Notzuhause durch. „Noch mal Glück gehabt, danke.“ Er blickte kurz nach oben und schlug sich dabei mit der flachen Hand an die Brust, genau auf das goldene Ziborium, das er auf sich trug. Als er den beiden Räubern begegnete, war er mit dem heiligen Brot auf dem Weg zu einem betagten Kranken gewesen.

Heil zuhause angekommen, sagte er zerknirscht zu Frieda: „Ich habe gelogen, und nur dadurch gelang es mir zu entkommen, aber trotzdem, es war eine Lüge, wie immer ich es drehen und wenden mag, es war eine Lüge.“ „Aber Herr Pfarrer“, fuhr seine Köchin in seine Gedanken, „die wollten Ihnen doch an den Kragen.“ „Kollar“, heißt das Ding, „Kollar“, und er machte eine Handbewegung wie ein Henker. „Was heißt hier Wahrheit, Sie mussten das goldene Ziborium vor den rücksichtslosen Räubern schützen, die vor nichts, auch nicht vor Totschlag zurückschrecken, hatten die es nicht auf das glänzende Behältnis des gesegneten Krankenbrotes abgesehen, Geld hat doch in diesen Zeiten keinen Wert mehr, Sie haben getan, was Sie tun mussten, Notwehr nenne ich das, also, was soll das Räsonieren.“

„Nenn‘ es eine lässliche Lüge, eine harmlose Lüge, eine kindliche Lüge, eine gefällige Lüge, eine schmerzfreie Lüge, eine sanfte Lüge, eine liebenswerte Lüge, eine menschliche Lüge, eine feinsinnige Lüge, eine ästhetische Lüge, eine geistreiche Lüge, eine spitzfindige Lüge, eine gewitzte Lüge, eine witzige Lüge, eine schillernde Lüge, eine listige Lüge, eine konzeptionelle Lüge, eine strategische Lüge, eine Zwangslüge, eine Verteidigungslüge, eine Schutzlüge, eine Zwecklüge, eine Notlüge, eine Täuschungslüge, eine Scheinlüge, eine jesuitische Lüge, wie Du willst, aber es war eine Lüge“, gab der Pfarrer gequält und gereizt zurück. Und er dachte, dass er dies wohl mit seinem Chef würde ausmachen müssen, da der, so hatte er doch immer wieder gepredigt, die absolute Wahrheit besitze und zugleich selbige auch sei.

Die Frieda nahm die Dinge des Lebens immer in ihrer einfachsten Weise: „Aber Herr Pfarrer, vergessen Sie doch nicht, wir glauben an die Wahrheit, aber wir wissen nicht die Wahrheit, glauben heißt für wahr halten, was man nicht wissen kann.“ Der Pfarrer fuhr mit dem angewinkelten Zeigefinger seiner linken Hand an der Innenseite seines Kragens entlang, reckte dabei ein wenig den Hals, so wie man tut, wenn es einem zu heiß wird. Ihm wurde, ihm wurde zu heiß, zumal Frieda mit schneidender Stimme, wie es so ihre Art war, nachsetzte: „In Wahrheit Wahrheit Lüge ist. Gewiss ist nur die Ungewissheit.“ „Hier auf Erden jedenfalls“, fügte sie sichtlich kleinlauter hinzu.

Der Pfarrer fühlte sich nicht eben wenig verunsichert, einerseits schien ihm das mit dem Glauben und Wissen der Wahrheit bedenkenswert, andererseits kam ihm die Schlange aus dem Paradies in den Sinn, von wegen geistiger Versuchung und so. Und dann wieder fragte er sich: „Sind nicht all die Trümmer um mich herum der Beweis dafür, dass man einer Wahrheit, die keine war, nachgelaufen war.“ Auch seine ehemalige Schule, das Stiftische Gymnasium, lag in Schutt und Asche. Was er dort im Physikunterricht gehört hatte, er erinnert sich noch sehr genau, war seines Wissens bis heute nicht aufgehoben: Descartes und Laplace hatten noch von der exakten Berechenbarkeit der Welt geträumt, doch Heisenberg zerstörte ihr deterministisches Modell mit seiner Unschärferelation. Und die bedeutet in letzter Konsequenz: Wahr ist nichts, alle Wahrheiten sind nur von unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit, wahr zu sein. Die Wahrscheinlichkeit eins aber, die gibt es hier nicht. Ist das die Paradiesesschlange, die da sprach?

Bei dem Gedanken an die Lüge war dem Pfarrer recht unwohl: „Könnte ja jeder kommen und sich seine eigene Wahrheit zurechtlegen, wo kämen wir denn da hin. Ausreden für die Lüge gibt es immer genug. Andererseits, muss ich denn jedem alles sagen, was ich weiß? Warum quält mich mein Gewissen wegen dieser Lüge, und die Frieda quält das ihre nicht? Mensch mit Kollar oder ohne, es muss doch für alle eine verbindliche Richtlinie geben. Gut, ich kann mit meinem Herren reden, und was in den Schriften über ihn gesagt wird, ist mir eine sichere Richtschnur, aber die anderen, die ihm fern stehen, was ist deren Schnur?“

Der Pfarrer holt tief Luft, in seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken: „Haben die beiden Schurken kein Gewissen oder ein anderes? Ändert sich das Gewissen, so zu sagen wie eine fortlaufende selbsttätige Anpassung eines Mittelwertes aller inneren Bewertungen von Handlungen und Überzeugungen, soweit sie noch bewusst oder unbewusst erinnert werden? Könnte es sein, dass sich das Gewissen nur dann meldet, wenn sein Träger mit seiner nächsten Tat zu weit von seinem persönlichen Mittelwert abweicht? Dass es aber große Abweichungen in vielen kleine Schritten gar nicht erst bemerkt? Also auf das Gewissen scheint kein Verlass.

„Ja, aber . . . “, überlegte es im Pfarrer weiter, „aber das hieße doch auch, dass sich das Gewissen, zwar nur in kleinen Schritten, zu jedem gewollten Mittelwert hin verändern ließe, es wäre manipulierbar.“ War nicht der Trümmerberg seiner wunderschönen mittelalterlichen St. Marien-Kirche schreiender Beweis für angepasstes schweigendes Gewissen, angepasst gemacht durch gezielte Manipulation. Es müsste wohl so irgendwie sein,“ dachte er, „sonst gäbe es keine Betrüger, keine Räuber, keine Mörder.“ Auf das Gewissen scheint kein Verlass. „Im Manipulieren haben wir über Jahrtausende unser Know How aufgebaut, erprobt, getestet, mit überwältigendem Erfolg, aber immer nur im negativen Sinne. Wäre denn nicht denkbar, all dies Wissen von nun an im positiven Sinne einzusetzen?“

Was könnte denn dem Menschen sichere Richtschnur sein? Bisweilen kommt ihm der kecke Gedanke, sich in das Gewand eines Gottlosen zu kleiden und dann seine Heilige Schrift einmal wie eine Zwiebel Schicht um Schicht aller Gottbezogenheit zu entkleiden. Was würde er im Kern finden? Wohl, was er in sich fühlt: „Ich möchte es vermögen, niemals jemandem etwas antun, was ich mir nicht angetan haben möchte.“ Ist das zu simpel, als das man sich daran halten könnte? Man? Wir? Jeder Einzelne?

Die Frieda setzte nochmals spitz an: „Das Wissen Sie doch auch längst, Herr Pfarrer, jeder Mensch hat nicht nur eine Dreifaltigkeit über sich, sondern auch eine Dreifaltigkeit in sich, nämlich einen Übeltäter, einen Faschisten und einen Heiligen. Im Normalfall gibt die Mischung daraus einen anständigen Kerl. In dieser Dreifaltigkeit liegt das Problem von Wahrheit und Lüge. Ursach all Freud und Leids dieser Welt.“

Die Frieda wandte sich zur Tür, sie dachte indes bei sich: „Ist nicht unser Umgang mit der Lüge unsere größte Lüge?“ Dann aber hatte sie Wahrheit und Lüge schnell wieder vergessen, sie war hinausgegangen, um mit den anderen Frauen weiter Ziegelsteine abzuklopfen, auf dass ihre Kirche bald wieder aufgebaut werden könnte. Sie wurde, aus alten Trümmer-Ziegel-Gesteinen.

Jedenfalls war dem Pfarrer spätestens heute augenfällig geworden, dass es wohl zwischen dem, was er predigte, und dem, was das Leben schrieb, zwischen Theorie und Praxis, auch in seinem Metier deutliche Unterschiede gab. Fortan würde er sehr viel vorsichtiger mit der Bewertung von Wahrheit und Lüge umgehen, denn nun wurde ihm langsam ein wohl kaum jemals zu zertrennender, unseliger Zusammenhang immer klarer: „Wer öffentlich moralisiert, der heuchelt zugleich.“