Eine Begebenheit, die sich anlässlich einer Vernissage zu einer Ausstellung Pablo Picassos ereignet haben soll.
Viele Gäste waren eingetroffen, es ging laut zu, ein heftiges Diskutieren, hier ablehnendes Kopfschütteln, da zustimmendes Kopfnicken. Ein stoßendes Gedränge, alles wollte den Meister sehen: „Picasso, Picasso!“
Eine ältere Dame mit weißen Haaren und einer dickglasigen Goldrandbrille, sie wohnte im Quartier, machte ihren kurzen Abendspaziergang; das Gedränge am Eingang zur Ausstellung und das Gelärme, war ihr aufgefallen, sie beschloss, ihrer Neugier nachzugeben und auf dem Rückweg dort hineinzuschauen, wenn weniger Besucher anwesend sein würden. „Wo junge Leute hingehen, da bleibt man jung,“ dachte sie.
Picasso hatte sie bald bemerkt, weniger sie selbst, als ihr eigenartiges Verhalten: Sie ging zu einem Bild, schaute es an, indem sie mit den Augen wie mit dem Zeigefinger über eine Landkarte fuhr, sie ersah sich das Bild förmlich, suchte die Farbflächen ab, dann stellte sie ihre Augen auf sich ein, schaute an sich entlang hinunter, soweit es die Sehphysik erlaubte, schaute wieder auf das Bild, wieder auf sich, wieder auf das Bild, dann auf den Nachbarn, ging um diesen herum, nicht ohne immer wieder ihren Blick zwischen Bild und Nachbarn zu wechseln. Dann zum nächsten Bild, dasselbe Verhalten, sie musterte jeweils das Bild, sich selbst und mal die, mal jene Person, die sich gerade in ihrem Umkreis befand. Natürlich war das Picasso aufgefallen.
Als sich das Vernissagefeld schon etwas mehr gelichtet hatte, richtete die sympathische alte Dame ihren Kopf auf, darin eine Geste, als würfe sie den Kopf ein wenig nach hinten, doch es war nur eine angedeutete Geste ihrer ältlichen Würde: sie hatte einen Entschluss gefasst. Ihr Schritt auf den Meister zu war fester, als man es ihrem Alter und ihrer Gekrümmtheit zugeordnet haben würde. Vor dem Meister angekommen, ging ein kleiner Ruck durch ihre fragile Gestalt, sie fasst allen ihr vom Leben noch belassenen Mut und fragt, nicht ohne gebührenden Respekt:
„Großer Meister,“ – sie fand, das sei die einzig angemessene Anrede für jemanden, den sie zwar nicht kannte, aber um den es soviel Lärm hier gab – „da drüben auf dem Bild, da haben sie die Nase der Frau auf ihre Stirne gemalt, warum das eigentlich?“ Sie fühlte etwas verlegen mit ihrer linken Hand ihre Nase ab, als wolle sie sich überzeugen, dass ihre Frage doch rechtens sei. Und sie war rechtens, bestätigte ihr ihre Hand. Quirlig und gewandt kam schon die Antwort des befragten Pinselakrobaten: „Gnädige Frau, ich male das so, weil ich das so sehe.“ „Aha, em, ja, ach so,“ vernahm man, und es hatten schon einige Vernehmende um das Frage- und Antwortduo einen Halbkreis gebildet, „so, so, äh, darf ich noch etwas fragen?“ „Ja bitte, gern,“ kam es behände vom Maler zurück.
„Äh, em, großer Meister, warum malen Sie denn das linke Bein seitlich an der Hüfte an?“ Keinerlei Zeichen der Unsicherheit in des Meisters Ausdruck: „Wissen Sie, Madame, weil ich das so sehe.“
Die alte Dame zupfte ein ganz klein wenig kokett, nicht ohne Grazie, aber ohne das es notwendig gewesen wäre, an ihrem Rock, schließlich trug sie keinen Supermini, den man, verlegen über die eigene Courage, dauernd hätte nach unten schieben müssen wie ehemals Madeleine Albright bei ihren öffentlichen Auftritten; also die alte Dame richtete sich noch etwas auf, tat noch einen Blick auf das nächst hängende Bild, dann einen auf ihren Nachbarn, den mit der dicken Zigarre, schließlich auf den Farbenakteur, musterte ihn von unten nach oben, schluckte kurz, zog ein wenig die Stirn in drei schon lange eingefahrene Falten und setzte wieder an: „Darf ich noch eine letzte Frage stellen?“ Keinerlei Ungeduld in des Malers Gesicht mit der Nase am rechten Ort, das machte ihr Mut:
„Großer Meister,“ sie griff mit der rechten Hand an den Rand ihres rechten dicken Brillenglases, „Warum malen Sie überhaupt, wenn Sie so schlecht sehen?“
Nichts wurde je berichtet, was dann geschah. Nur eines weiß man noch heute, diese alte Dame, das sind wir, Hilfe suchend im Vergleich des Bildes mit der Wirklichkeit, die Mimesis nicht entdeckend könnend, unsicher die Wirklichkeit abfragend, ob sie denn so unwirklich sei, wie dort auf dem Bild. Unser Verstand will nicht die Antwort liefern, weil er die Sprache des Bildes nicht spricht. Und wir retten uns in die befreiende Bemerkung: „Hat dieses Bild aber einen schönen Rahmen!“